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Die Welt von morgen

Bei Netflix: Eine mitreißende Dramaserie über die Anfänge von Rap und HipHop in Frankreich Ende der 1980er-Jahre.

Um eines gleich klarzustellen: Es geht hier zwar um die späteren Größen des französischen Rap Kool Shen, Joeystarr und DJ Dee Nasty. Aber „Die Welt von morgen“ ist keine von diesen heldenhaften Aufstiegsgeschichten vom Underdog an die Spitze der Musikindustrie im Hochglanzlook – ganz im Gegenteil. Die Kunst kommt von der Straße und so sieht die Serie auch aus: authentisch im Retro-Look, dabei unaufgeregt-realistisch dem damaligen Zeitgeist und Underground-Lebensgefühl verpflichtet. Der harte Beat der Musik gibt den Rhythmus vor. Erzählt wird von den schwierigen Anfängen in einem sozialschwachen Vorort von Paris. Es geht um das Lebensgefühl der Jugendlichen am Rande der Gesellschaft, die allesamt Familien von Einwander*innen entstammen, um die identitätsstiftende Bedeutung von Straßenkunst wie Graffiti und Breakdance, um die sozialen und familiären Probleme. Vor allem aber geht es um die Leidenschaft für Musik und Tanz und den Mut, allen Widerständen zum Trotz einem großen Traum zu folgen. Soziale Ausgrenzung, Rassismus und Polizeigewalt sind allgegenwärtig, die Wut der Jugendlichen kanalisiert sich in Kunst und dem unbedingten Willen, eine eigene Stimme und Ausdrucksform zu finden.

Die sechsteilige Serie basiert auf etlichen Zeitzeug*innenberichten und Archivmaterial der realen Figuren. Die Erzählweise ist eher ruhig, sie nimmt sich Zeit, die persönlichen Entwicklungen nachzuzeichnen. Alles wirkt authentisch: die Ausstattung, die Besetzung, die Locations, das Lebensgefühl der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre, die verschiedenen Kunstformen, die sich auf der Straße entwickelt haben.

Die späteren Stars dieser Undergroundszene sind vornehmlich männlich. Enthusiast Daniel alias DJ Dee Nasty holte die Musik der Black Community der USA überhaupt erst nach Frankreich. Der sensible Musikfan ließ sich von der Philosophie der „Universal Zulu Nation“ beeinflussen, die Gewaltfreiheit und Drogenverzicht propagierte und die Anfänge des HipHop prägte. Am Anfang der Serie sagt ein Aktivist dieser schwarzen Community: „Musik, Spiritualität, Poesie, Malerei können die Welt verändern.“ Daniel übernahm das Scratchen der Vinylplatten als Soundgrundlage, die beiden Jugendlichen Bruno, später Kool Shen, und Didier alias Joeystarr waren die ersten, die auf Französisch rappten. Frauen hatten es in dieser Szene schwer, ihr wichtiger Einfluss kommt aber nicht zu kurz. Die Liebesgeschichte der toughen Béatrice und des sanften Daniel nimmt einen großen Raum ein. Béatrice rebelliert gegen ihre chinesischen Eltern, sie unterstützt tatkräftig Daniels mühsame Gehversuche als DJ, der mit seiner zurückhaltenden Art eher hilflos wirkt. Mit elf Jahren wurde sie vergewaltigt, das hat sie geprägt, aber keineswegs gebrochen. Vivi kann sich zwar als Sprayerin Lady V Respekt verschaffen und Brunos Herz erobern, sie wird aber später nur als sein Anhängsel wahrgenommen. Ihre Mutter, die einen Bürojob bei einem Musiklabel hat, hat die jungen Künstler*innen auch maßgeblich unterstützt. Am Ende der Serie wird der entscheidende Einfluss dieser Wegbereiterinnen besonders erwähnt.

Im Zentrum steht neben Daniels Gehversuchen als DJ die Freundschaft von Bruno und Didier, die immer wieder von den schwierigen Umständen torpediert wird. Bruno sollte eigentlich Profifußballer werden, ein klassischer Aufstiegstraum, aber er brennt für den Breakdance und die Tanz-Battles auf den Straßen des Viertels. Didier lebt mit dem alleinerziehenden Vater, der ihn verprügelt und demütigt. Didier rutscht dann auch immer stärker in Drogengeschichten ab, arbeitet als Drogenkurier, letztendlich aber entscheidet er sich immer für die Musik. Seine ungebrochene Lebensfreude ist ein beständiger Motor für das Rap Duo, sie nennen sich Sûpreme NTM, die Abkürzung steht für „Fick deine Mutter“. Wut ist eine unaufhörliche Energiequelle, das Aufbegehren gegen Chancenlosigkeit und gegen den Einfluss einer Gesellschaft, die nicht an ihr Potenzial glaubt. Um die Welt von morgen müssen sie kämpfen. Sie machen das auf der Straße, bei illegalen Partys, bei Open-Mikes in einem Piratensender. Als ein Majorlabel Interesse bekundet, entscheiden sie sich gegen die fett aufpolierte Studioproduktion. Das ist nicht ihr Sound, so ist das Leben nicht, es ist rauh und dreckig – so wollen sie auftreten und wahrgenommen werden. Eine Stimme haben, das Wort ergreifen, in der Gesellschaft sichtbar werden, Selbstermächtigung – darum geht es. Die Geschichte hat nichts, aber auch gar nichts an Aktualität und Sprengkraft verloren.

Christiane Radeke

© Jean-Claude Lother
13+
Spielfilm

Le monde de demain - Frankreich 2022, Regie: Katell Quillévéré, Hélier Cisterne, Homevideostart: 21.10.2022, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 13 Jahren, Laufzeit: 6 x ca. 50 Min. Buch: Katell Quillévéré, Hélier Cisterne, Vincent Poymiro, David Elkaïm, Laurent Rigoulet, Raphaël Chevènement. Kamera: Tom Harari. Musik: Amine Bouhafa, Dee Nasty. Schnitt: Lila Desiles. Produktion: Arte. Anbieter: Arte, Netflix. Darsteller*innen: Anthony Bajon (Bruno/ Kool Shen), Melvin Boomer (Didier/Joeystarr), Andranic Manet (Daniel/Dee Nasty), Léo Chalié (Béatrice), Laïka Blanc-Francard (Vivi/Lady V) u. a.

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