Kritiken > Filmkritik
Kritiken > Vorgestellt im Oktober 2022 > Wendell & Wild

Wendell & Wild

Auf Netflix: Ein rebellischer Teenager mit großen Schuldgefühlen und zwei trickreiche Dämonen mit einem großen Traum.

Was die Animation betrifft, ist „Wendell & Wild‟ so ziemlich genau das, was man sich von Henry Selick erhofft hat. 13 Jahre nach der phänomenalen Adaption von Neil Gaimans gruseligem Kinderroman „Coraline‟ hat Selick erneut eine künstlich-unheimliche Welt erschaffen, die von ihren unzähligen Details lebt. Das Figurendesign ist eigenwillig, manche Wesen wirken manchmal geradezu zweidimensional und erinnern an Gemälde von Picasso, an Schönheitsideale passen sie sich ohnehin nicht an. Doch vielleicht am erstaunlichsten ist, dass die Bewegungen der Puppen und die Kamerabewegungen in diesem handgemachten Stop-Motion-Trickfilm so flüssig und makellos sind, dass man sie manchmal für eine CGI-Animation halten könnte. Eine Welt zum Staunen also, inszeniert in giftigen Farbkombinationen – die dann allerdings leider mehr von ihrer Optik und technischen Brillanz lebt denn von ihrer Geschichte.

Die Probleme beginnen schon beim Titel. Nach zwei Dämonen ist der Film benannt, zu dem Selick gemeinsam mit Jordan Peele („Get Out‟, 2017; „Nope‟, 2022) das Drehbuch geschrieben hat. Doch die Brüder Wendell und Wild spielen eigentlich nur eine Nebenrolle. Im Mittelpunkt des Films steht vielmehr die 13-jährige Kat, die vor fünf Jahren bei einem dramatischen Autounfall ihre Eltern verloren hat und sich seither die Schuld an deren Tod gibt, weil sie den Vater am Steuer abgelenkt hatte. Kat ist schwermütig geworden und wirkt schon äußerlich ziemlich taff. Ihre Kleidung ist punkig-rotzig, sie hat mehrere Piercings über ihrem rechten Auge und aufgetürmte, grün gefärbte Haare. In das katholische Internat, in dem sie fortan leben soll, will sie jedenfalls nicht so recht passen. Dann passieren merkwürdige Dinge. Erst erscheint eine merkwürdige Narbe auf ihrem Handrücken, die ihre Verbindung in die Welt der Dämonen symbolisiert, dann begegnen ihr in einem Traum die beiden kleinen Dämonen Wendell und Wild, die ihr ein Angebot machen, das sie nicht ausschlagen kann: Wenn Kat die Dämonen in die irdische Welt ruft, versprechen diese ihr, ihre Eltern wieder zum Leben zu erwecken. Und natürlich lässt Kat sich auf den Deal ein. Sie ahnt ja nicht, dass Wendell und Wild gar nicht über diese Macht verfügen. In Wirklichkeit wollen diese nur dem riesigen Oberdämon entkommen, auf dessen verkahlendem Kopf sie magische Haarcreme auftragen müssen, um tote Wurzeln wieder zu reanimieren, und träumen davon, einen Vergnügungspark für verlorene Seelen zu eröffnen.

An skurrilen Figuren also fehlt es nicht in „Wendell & Wild‟, an Motiven auch nicht. Nur kann der Film sich nicht entschließen, über wen er eigentlich erzählen will. Eine Buddy-Komödie über zwei schräge Dämonen? Sicherlich ist es aberwitzig, Wendell und Wild bei ihrer mühsamen Arbeit auf dem Kopf des Oberdämons zu beobachten. Die Hauptfiguren aber sind sie beileibe nicht. Das Herz der Geschichte liegt bei Kat. So große Schuldgefühle bei einem so jungen Mädchen – das ist heftiger Stoff, der sich nicht ohne weiteres durch ein paar Gags beiseite wischen lässt. Und das tut der Film glücklicherweise auch nicht. Allerdings lässt er lange offen, was mit Kat seit dem Unfall vor fünf Jahren passiert ist. Wie wurde aus dem kleinen Mädchen so ein rauer Teenager, der sogar schon mal in der Jugendhaft war? Erst in einer zwar sehr starken, aber viel zu spät platzierten Szene wird diese Geschichte doch noch erzählt.

Mit seiner Vorliebe für das Abseitige und Abgründige reiht sich „Wendell & Wild‟ perfekt ein in eine Riege mit Selicks bisherigen Regiearbeiten „James und der Riesenpfirsich‟ (1996) und „Coraline‟ (2009), aber auch Tim Burtons „Frankenweenie‟ (2012) und „Corpse Bride‟ (2005) sowie Chris Butlers und Sam Fells „Paranorman‟ (2012) – allesamt Puppentrickfilme, die die Brücke zwischen handgemachtem Charme und Grusel schlagen. Das bietet nicht nur Schauwerte, sondern auch eine Möglichkeit, um etwa über Ängste und Sorgen auf eine fantasievolle Art zu erzählen. „Meine Dämonen, mein Problem‟, sagt Kat einmal. Und so ist die Geschichte von „Wendell & Wild‟ auch ein Kampf gegen Dämonen auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Zum einen sind es diese kleinen, fiesen Biester, zum anderen sind es die schwermütigen Gedanken und Schuldgefühle, die Kat zu schaffen machen und die sie überwinden muss, bis sie gestärkt in ihr neues altes Leben zurückkehren kann.

Das allein als Plot hätte gut und gerne gereicht. Mit seiner Kritik an der Privatisierung von Gefängnissen und am Kapitalismus ganz allgemein – der alte Wohnort von Kats Eltern muss einem neuen Gefängnisbau weichen, in dem scheinbar unbelehrbare Jugendliche inhaftiert werden sollen – schießt der Film dann aber endgültig über sein Ziel hinaus und verzettelt sich. Dafür ist bemerkenswert, wie beiläufig er sein diverses Figurenensemble inszeniert, von der schwarzen Protagonistin über einen Rollstuhlfahrer bis hin zu einem Trans*-Jugendlichen.

Stefan Stiletto

 

© Netflix
12+
Animation

Wendell & Wild - USA 2022, Regie: Henry Selick, Homevideostart: 28.10.2022, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 106 Min. Buch: Henry Selick, Jordan Peele. Kamera: Peter Sorg. Musik: Bruno Coulais. Schnitt: Robert Anich, Sarah K. Reimers. Produzent*innen: Henry Selick, Ellen Goldsmith-Vein, Jordan Peele, Sarah Serata. Produktion: Monkeypaw Productions. Anbieter: Netflix.

Wendell & Wild - Wendell & Wild - Wendell & Wild - Wendell & Wild - Wendell & Wild - Wendell & Wild - Wendell & Wild -