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Die Tochter der Sonne

Entdeckt beim Kinderfilmfest München: Lange wartet ein zehnjähriges Mädchen auch die Rückkehr des Vaters – und verändert sich dabei.

Am abendlichen Lagerfeuer am Ufer erzählen sich Lucía und ihr Vater Pedro Geschichten vom Monster im See, während Pedro geschickt kleine Boote aus Schilf fertigt. Es ist der letzte Abend vor seiner Abreise in die Stadt La Paz, wo er bezahlte Arbeit finden muss. Diese gibt es für ihn wie so viele andere nicht mehr auf der heimatlichen Isla del Sol, der Sonneninsel. Zurück bleiben die zehnjährige Lucía mit ihrer aufgeweckten jüngeren Schwester Maribel, ihrer Mutter und dem Baby-Bruder.

Damit beginnt das überzeugende Spielfilmdebüt von Catalina Razzini, das ganz seinen Bildern und Darsteller*innen vertraut, statt es mit Erklärdialogen zu überfrachten. Inspiriert von einer zufälligen Begegnung mit zwei Mädchen auf der Sonneninsel schrieb die bolivianische Filmemacherin die Coming-of-Age-Geschichte einer Tochter, die ihren Vater vermisst und dabei erwachsen(er) wird. Gleichzeitig erzählt ihr Film auch viel über diesen einzigartigen Ort und seine Menschen: Die Isla del Sol liegt im Titicacasee, dem in den Anden auf 3.800 Metern gelegenen Gewässer, durch das die Grenze zwischen Peru und Bolivien verläuft. Ihre mythische Relevanz verdanken Gebirgssee und Sonneninsel der Inka-Kultur, als dessen Ursprungsort sie gelten. Relikte von Inka-Bauten auf der Insel sind beliebte Touristenattraktionen. Der Filmtitel (im Original etwa „Hüter der Sonne“) spielt auf die Legende an, nach der Sonnengott Inti einen Sohn als ersten Herrscher der Inka auf die Isla del Sol geschickt hat. Dessen Wiederkehr steht für Glück und Freude, heißt es im Glauben der indigenen Völker.

Auch Lucías Familie gehört den Aymara an, die in den Hochanden leben und eine eigene Sprache (Aymara) haben. Ihre Traditionen und Kultur sind im Film omnipräsent. Es ist ein einfaches, entbehrungsreiches und hartes Leben im Einklang mit der Natur, das heute stark auf den Tourismus angewiesen ist. Lucías Freund Sebastián führt Tourist*innen zu den Ruinen der Inka-Stätten, erzählt dabei die Legende vom Sohn der Sonne. Denn selbstverständlich tragen auch die Kinder zum Einkommen bei. So ist die Zeit angefüllt mit Arbeiten und Pflichten. Nach der Schule kümmern Lucía und Maribel sich um ihr Alpaka Panchito, den heimlichen Star des Films. Stoisch lässt es sich von den Schwestern spazieren führen oder für Touristenfotos herrichten. In den Filmbildern wirkt es dabei wie eine fluffige weiße Wolke, die mit den fröhlich-bunten Röcken der Schwestern um die Wette leuchtet. Es sind unbeschwerte Momente, in denen die Mädchen hübsch geformte Kieselsteine sammeln, die sie neben handgefertigten Souvenirs ihrer Mutter an Tourist*innen verkaufen. Vor allem aber wartet Lucía. Wann endlich kommt ihr Vater wieder, der doch ihr Verbündeter ist, während sie immer häufiger mit ihrer Mutter aneinandergerät?

Die Zeit des Wartens wird in langen, ruhigen Einstellungen und Panoramen der faszinierenden kargen See- und Insellandschaft spürbar. Immer wieder folgt die Kameraperspektive Lucías sehnsuchtsvollem Blick über die Wasseroberfläche zum fernen Horizont. Auch die Eintönigkeit der Tage und stets gleichen Pflichten vermittelt ein Gefühl für Lucías quälenden Zwischenzustand. Unmerklich jedoch beginnt ein alles verändernder Prozess in Lucía. Äußerlich ruhig, arbeitet es in ihr. Dem Schulunterricht kann sie nur schwer folgen, Blicke und Gedanken schweifen ab. Einmal schreibt sie ihre Erinnerungen an glücklichere Zeiten auf, ein Brief an den Vater, der freilich nicht per Post verschickt werden kann. Und auch körperlich erfolgt eine Zäsur mit Lucías erster Periode, ganz unaufgeregt erzählt. Je angespannter das Verhältnis wird zwischen widerspenstiger Tochter und strenger Mutter, desto größer werden Lucías Erwartungen an die Rückkehr ihres Vaters. Während Lucías Mutter zunehmend hadert mit dem fernen Ehemann, der kein Geld mehr schickt, klammert sich Lucía beharrlich an die Wunschvorstellung, dass ihr Vater niemand anderes als der heilbringende Sohn der Sonne ist. Doch es ist nicht der Vater, der sich so verändert hat, dass Lucía ihn schließlich nicht mehr erkennt. Lucías Wandel vom Kind zur unabhängigen jungen Frau vollzieht sich ganz allmählich, still erkämpft in Auseinandersetzungen mit den Erwachsenen und den eigenen Bedürfnissen. Sie löst sich von sämtlichen Erwartungen, von der festgeschriebenen Rolle als Tochter und als (indigene) Frau. Am Anfang wünscht sich Lucía ein eigenes Miniaturboot aus Schilf. Am Ende ist nicht nur Lucía dem Wunsch entwachsen. Wenn sie entschlossen ihr eigenes Leben in die Hand nimmt, gibt es keinen Blick zurück, sondern ein Aufatmen und ein Lächeln in Richtung Zukunft. Ein starkes Schlussbild für einen starken Film über eine starke, mutige junge Frau.

Ulrike Seyffarth

 

© Filmfest München
9+

Cuidando al sol - Bolivien, Spanien, Deutschland 2021, Regie: Catalina Razzini, Festivalstart: 28.06.2022, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 9 Jahren, Laufzeit: 84 Min. Buch: Catalina Razzini. Kamera: Santiago Racaj. Musik: Andrés Razzini, Guadalupe Álvarez Luchía. Schnitt: Magdalena Schinca, Irene Cajias. Produktion: Pucara Films Production (Bolivien) in Co-Produktion mit Creta Producciones S.L. (Spanien) und Autentika Films (Deutschland). Verleih: offen. Darsteller*innen: María Belén Callisaya Ramos (Lucia), Katerine Choque Huanca (Maribel), Erík Méndez Mendoza (Sebastián), Karina Paco (Mutter), Luis Aduviri (Vater Pedro) u. a.

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