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In der Arte-Mediathek: Eine 17-jährige Rollstuhlfahrerin erwartet in dieser Mini-Serie sehnlichst ihr „erstes Mal“.
Ihre lockigen Haare sind blaugefärbt, die Lippen rot angemalt, die dunklen Augen betont mit einem Kajalstift – gleich zu Beginn der sechsteiligen Miniserie ruht die Kamera auf dem Gesicht der hübschen Juana. Dann entfernt sie sich und zeigt das Mädchen mit ihren dünnen Armen und Beinen auf einem Toilettenstuhl sitzend. Ihre Mutter hebt sie hinüber in den Rollstuhl. Juana kann lediglich ihre Hände und Unterarme bewegen und ist auf ständige Hilfe angewiesen.
Zusammen mit ihrer Mutter Diana und der Schwester Elena lebt sie in Córdoba, der zweitgrößten Stadt Argentiniens. Gerade sind die drei umgezogen, damit Juana eine Schule besuchen kann, in der sie sich wohlfühlt. Zunächst wird sie auch dort wieder einmal darauf gestoßen, dass sie mit ihrer Behinderung eine Außenseiterin ist. Denn ihre gesamte neue Klasse muss wegen ihr in den Raum eine Etage tiefer ziehen. Doch schon bald freundet sich Juana mit der rebellischen Julia und dem charismatischen Efe an. Beide kämpfen um die Einführung eines modernen Sexualkundeunterrichts, in dem es nicht nur um Liebe als „eine Verbindung zwischen Mann und Frau“ geht, sondern Diversität und das Selbstwertgefühl gefördert wird. Juana schließt sich den beiden an und entwickelt sich zur Sprecherin dieser Gruppe, die immer größer wird. Und sie erlebt ihr „erstes Mal“, was allerdings danebengeht. Denn Thiago, mit dem sie sich über eine Dating-Plattform verabredet hat, ist letztendlich überfordert, weil Juana ihm genaue Anweisungen geben muss, wie er ihren Gurt lösen, sie herausheben und den Kopf zurechtrücken muss.
Am nächsten Tag wollen ihre Freunde wissen, „wie es mit dem Typen lief“. Und sie antwortet frech: „Wir haben gefickt, bis er nicht mehr gehen konnte. Er musste im Rollstuhl heimfahren“. Ein zweiter Versuch klappt dann tatsächlich. Auf einer Party lernt Juana den sympathischen Leandro kennen und verbringt mit ihm die Nacht in dessen Minibus. Doch einen Monat später macht sie sich große Sorgen, weil ihre Regel ausbleibt. Zum Glück kennt ihre Freundin Cami zwei Gesundheitshelferinnen, die schwangere Frauen in Not unterstützen. Sie können Juana beruhigen: Der Test ist negativ. Indessen hat die Gruppe um Julia und Efe eine Protestaktion auf einem Gerüst organisiert. Für Juana mit ihrem Rollstuhl ein Ding der Unmöglichkeit, dort hoch zu gelangen. Sie fühlt sich ausgeschlossen und streitet sich mit Julia. Als sie sich dann auch noch mit einem Lehrer anlegt und meint, dass sie „ficken und abtreiben kann, wie sie will“, entsteht ein großes Rätselraten in den Sozialen Medien. Sie ist Thema Nummer Eins und gerät vollends ins Abseits. Doch dann stellt sich Julia auf ihre Seite …
In nur sechs Folgen á 15 Minuten wird dies alles erzählt: bunt, flimmernd und rasant, mit schnellen Schnitten, kurzen, knackigen (deutsch untertitelten) Dialogen und verschiedenen visuellen Effekten. Da werden die Textnachrichten von Juanas Smartphone eingeblendet, da schlängeln sich grafische Formen um die Körper in erotischen oder auch stark emotionalen Szenen. Überhaupt stellt diese Serie unbefangen und authentisch dar, wie eine behinderte 17-Jährige Sex hat.
Damit bricht das Regieteam um Maria Belén Poncio, Rosario Perazolo Masjoan und Damian Turkieh mutig ein Tabu und behandelt trotz der knappen, lockeren Erzählweise solch große Themen wie Inklusion, sexuelle Selbstbestimmung und Diversität. Erzählt wird die Geschichte aus dem Blickwinkel der 17-jährigen Juana. Mit ihr zusammen erfahren wir, welchen Hürden eine Rollstuhlfahrerin tagtäglich ausgesetzt ist, wie oft sie um Hilfe bitten muss oder ganz und gar ausgeschlossen ist und dass sie selbst in intimen Situationen, wie beispielsweise beim Toilettengang, immer jemanden an ihrer Seite braucht. Doch noch viel schlimmer sind die Vorurteile, denen Juana ausgesetzt ist. Selbst die Mutter kommt nicht auf die Idee, dass ihre Tochter sexuelle Bedürfnisse hat, geschweige denn, dass sie ihnen nachgeht. So ist sie völlig fassungslos, als sie erfährt, dass Juana glaubt, schwanger zu sein. Auch die Lehrkräfte an der Schule und einige Journalisten zeigen für Juanas Bedürfnisse wenig Verständnis. Ihnen wirft die junge Frau vor: „Wenn man nicht mit einem Normkörper geboren wurde, hat man sich rauszuhalten.“
Gespielt wird die selbstbewusste Juana von der Newcomerin Marisol Agostina Irigoyen. Dass die Darstellerin selbst im Rollstuhl sitzt, versteht sich von allein und ist trotzdem immer noch eine Besonderheit in Filmen über behinderte Menschen. Marisol Agostina Irigoyen ist ein Glücksfall für dieses Projekt. Mit ihrer sympathischen, einnehmenden Art trägt sie die Serie und lässt nichts peinlich oder mitleiderregend erscheinen. Dass sie zu ihrer Körperlichkeit steht und auch so in Szene gesetzt wird, macht diese Miniserie so besonders.
Barbara Felsmann
Un mètre vingt - Frankreich, Argentinien 2021, Regie: María Belén Poncio, Rosario Perazolo Masjoan, Damian Turkieh, Homevideostart: 07.12.2021, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 6 x 15 Min. Buch: Greta Molas, Javier Correa Cáceres, Rosario Perazolo Masjoan, María Belén Poncio, Elisa Gagliano, Delphine Agut, Ivana Galdeano, Gabriela Vidal. Kamera: Marcos Rostagno. Musik: Lucia Caruso, Pedro H. da Silva. Schnitt: Mariana Quiroga. Produktion: ARTE France, Detona Cultura, Red Corner, Realidad 360 Argentina, Maldito Maus VFX & Animation, Mena Studio, Movimiento Producciones. Plattform: Arte, YouTube. Darsteller*innen: Marisol Agostina Irigoyen (Juana), Florencia Licera (Julia), Marcio Ramses (Efe), Natalia Di Cienzo (Diana), Francisca Spinotti (Elena) u. a.