Kritiken > Filmkritik
Kritiken > Vorgestellt im Februar 2022 > Kind Hearts

Kind Hearts

Entdeckt bei Generation 14plus: Die Liebe und ihre Fallstricke, erzählt in einem aufregenden Mix aus dokumentarischen und gestellten Szenen.

Gleich die erste Szene nimmt als Metapher den ganzen Film vorweg. Nachts auf dem Rummelplatz fliegen Billie und Lucas auf einem Kettenkarussell durch die Lüfte. Sie genießen dieses Gefühl der Freiheit, denn die beiden 18-Jährigen haben gerade die Schule hinter sich und müssen nun die Weichen dafür stellen, wie es mit ihnen weitergeht. Wo und was sollen sie studieren? Werden sie bald zusammenziehen, denn sie leben bereits seit drei Jahren in einer festen Beziehung? Lucas gibt sich selbstsicher und als Beschützer, auch wenn er an Billie vorbeischaut und andere Menschen im Blickwinkel hat, die von der Kamera ebenfalls erfasst werden. Billie ist sich in dieser Situation der auf sie einwirkenden Zentrifugalkräfte nicht ganz so sicher, hält sich mit beiden Händen an den Ketten fest und richtet wohl einen eher prüfenden Blick auf die Halterung der Ketten. Sie möchte die Beziehung mit Lucas am liebsten noch weiter festigen, während er lieber so weitermachen möchte wie bisher, frei und ungebunden, aber letztlich doch gut abgesichert. Unaufhaltsam dreht sich das Karussell im Kreise, nur leichte Abweichungen von der Bahn sind durch Abstoßen möglich, die immer gleiche Routine der Kreisbahnen wird den beiden im weiteren Verlauf des Films noch schwer zu schaffen machen.

Olivia Rochette und Gerard-Jan Claes arbeiten bei ihren Filmen schon seit Jahren fest zusammen. In ihrem neuen Film erforschen sie die Liebe als Abenteuer, als Konstruktion, die nicht fest gefügt ist, sondern immer wieder neu gefestigt werden muss und der Gefahr ausgesetzt ist, wieder in ihre Einzelteile zu zerfallen und in getrennte Wege zu münden. Ein Abenteuer für alle Beteiligten vor und hinter der Kamera gleichermaßen. Denn Billie und Lucas sind nur ansatzweise Teil einer inszenierten Geschichte, sie spielen sich selbst und die Kamera begleitet ihr Leben und ihre eigenen Reflexionen über ihre Beziehung zueinander und zur Außenwelt über mehrere Monate hinweg als stille und zugleich sehr präsente Beobachterin in langen, ruhigen Einstellungen. Die Grenzen zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm sind aufgehoben. Welche Szenen inszeniert wurden oder vollkommen authentisch sind, lässt sich für das Publikum kaum noch unterscheiden. Gerade das macht den besonderen Reiz dieses Films aus, der geradezu exemplarisch typische Beziehungsstrukturen und -probleme junger Menschen zur Sprache bringt. Es dürfte nur wenige Jugendliche geben, die sich in Billie und Lucas nicht in irgendeiner Weise selbst wiedererkennen, wobei der Gender-Aspekt ebenfalls eine wichtige Rolle spielt und Covid-19 später auch den Alltag dieser Liebenden durcheinanderbringen wird.

Doch zunächst einmal möchte Lucas lieber mit Freunden als mit Billie zusammenziehen. Das verspricht ihm mehr Spaß und obendrein würde dann jedes Treffen mit seiner Freundin etwas Besonderes bleiben. Während Billie mit einer Freundin shoppen geht, spielt Lucas mit Freunden Fußball und trifft sich mit einer anderen Freundin, die ihm dringend davon abrät, mit Billie zusammenzuziehen. Mit Charlotte, die einen Freund hat, verbindet ihn zudem die Liebe zur Musik. Beide spielen in einer Band, sie als Sängerin, er als Musiker und Komponist, wobei sich beide gegenseitig viel Selbstbestätigung geben. Dass Billie ins Hintertreffen gerät, versteht sich von selbst. Nach einer lange erhofften Aussprache mit Lucas kommen beide zu dem Ergebnis, es wäre besser, wenn sie vorübergehend mehr für sich allein sein könnten. Der erste Lockdown durch die Pandemie verstärkt diese Tendenz der gegenseitigen Entfremdung noch und vorübergehend antwortet Lucas nicht einmal mehr auf ihre Anfragen in den Social Media. Das Ende, wenn es denn überhaupt ein Ende ist, bleibt offen, aber sie werden auf jeden Fall in der Lage sein, über ihre Beziehung zu reflektieren.

So offen und ehrlich wird im dokumentarisch angehauchten Coming-of-Age-Film selten über die Liebe und ihre Fallstricke geredet. Allein das macht den Film schon sehenswert, zusammen mit den vielen kleinen Beobachtungen, etwa wenn allein die Jungen gebannt auf die Kinoleinwand schauen, während sich zwei Liebende entkleiden. Mitunter ticken Jungen eben doch anders als Mädchen.

Holger Twele

© Olivia Rochette, Gerard-Jan Claes
14+
Dokumentarfilm

Kind Hearts - Belgien 2022, Regie: Olivia Rochette, Gerard-Jan Claes, Festivalstart: 11.02.2022, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 87 Min. Buch: Olivia Rochette, Gerard-Jan Claes. Kamera: Olivia Rochette. Schnitt: Dieter Diependaele. Produktion: Accatone films, Canvas. Verleih: offen. Mitwirkende: Billie Meeussen, Lucas Roefmans, Romane Van Damme, Charlotte Meyntjens, Rana Hamzaoui, Gaspard Renier, Victoria De Man u. a.

Kind Hearts - Kind Hearts -