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Mica

Entdeckt bei „Lucas‟: Ein Junge aus ärmlichen Verhältnissen lässt sich im Tennis trainieren – aber Profi zu werden ist nicht sein eigentliches Ziel.

Der junge Mica aus Marokko wächst in ärmlichen Verhältnissen auf dem Land auf. Durch die schwere Erkrankung seines Vaters gerät die Familie weiter in Schieflage. Als ältestes Kind muss Mica fortan zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. So wird er dem alten Hajj anvertraut, der als Hausmeister in einem elitären Tennisclub in Casablanca arbeitet und froh ist, bei seiner Arbeit eine Unterstützung zu erhalten. Mica ist alles andere als glücklich, fern der Familie und seiner Freunde in einer fremden und feindlich wirkenden Umgebung so hart arbeiten zu müssen und von den reichen Jugendlichen des Tennisclubs auch noch schikaniert und beschimpft zu werden. Auch Hajj verhält sich zunächst unnachgiebig und streng gegenüber dem Jungen, bevor er bei einem Ausflug ans Meer sein weiches Herz zeigt und deutlich wird, wie sehr er selbst unter seinem Schicksal zu leiden hat. Durch Zufall wird die Trainerin Sophia auf Mica aufmerksam und erkennt sofort sein außergewöhnliches Talent als Tennisspieler. Sie erklärt sich nach einigem Zögern bereit, ihn außerhalb der normalen Arbeitszeiten zu trainieren, immer dann, wenn sonst niemand auf dem Platz ist.

Was sich zunächst wie eine filmisch geschönte Erfolgsgeschichte einer ungewöhnlichen Sportkarriere aus der maghrebinischen Unterschicht anhört, wird durch zahlreiche retardierende Momente und Rückschläge in Micas Leben erst wirklich interessant und emotional anrührend. Mica träumt weniger von einer Sportlerkarriere als davon, wie zuvor einer seiner besten Freunde nach Marseille zu gelangen, als illegaler Einwanderer zwar, aber ohne zu ahnen, was ihn dort möglicherweise erwartet. Sophia kann seinen Wunsch nicht nachvollziehen. Ihr selbst winkte eine internationale Karriere, bevor sie durch eine Verletzung davon Abstand nehmen musste und nach Marokko zurückkehrte. Micas Zukunft sieht sie ebenfalls eher im Heimatland als in Frankreich.

Der marokkanische Regisseur Ismaël Ferroukhi (geb. 1962) hat seinen insgesamt eher ruhig und verhalten erzählten Film ganz aus der Perspektive von Mica gedreht, was eine starke Identifikation mit ihm ermöglicht und zu einem tiefen Mitgefühl für den jungen Helden führt. Mica soll die demütige Opfer- und Dienerrolle übernehmen, die ihm von der herrschenden Gesellschaftsschicht zugeteilt worden ist. Doch dazu ist er nicht bereit. Von der Familie trotz der nachvollziehbaren widrigen Umstände letzten Endes im Stich gelassen und nach Casablanca abgeschoben, verfügt Mica über einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Es dauert aber, bis er diese Fähigkeit produktiv nutzen kann, zuvor muss er noch lernen, seine berechtigte Wut in Zaum zu halten. Weil ihm das lange nicht gelingt und er sogar mehrfach ausrastet, verliert er seinen Job als Helfer des Hausmeisters und verpasst seine erste große Chance, gegen diejenigen im Turnier anzutreten, die ihn zuvor gedemütigt hatten. Das verleiht der realistisch erzählten Geschichte sogar einen universellen Touch, der weit über die Chancenungleichheit in der marokkanischen Gesellschaft hinausweist. Mit Talent allein ist es jedenfalls nicht getan, es gehören wie bei Mica neben einer gehörigen Portion Glück auch großes Durchhaltevermögen und eine Kämpfernatur dazu, um auf anständige Weise Erfolg zu haben. Und der ist auch nicht als Happy End garantiert, wobei das offene Ende des Films zumindest Zuversicht vermittelt, wenn Vögel über Mica hinwegziehen und seinen Traum von Freiheit und Unabhängigkeit symbolisieren.

„Mica‟ gelingt es, auf unaufdringliche und alles andere als lehrhafte Weise, Empathie und Verständnis für die Lebensumstände vieler junger Menschen des Globalen Südens zu wecken. Gelungen ist schließlich auch die Wahl der Sportart, die zum Sprungbrett für Mica wird. Hier ist es einmal nicht der Fußball wie bei vielen ähnlich gelagerten Geschichten, sondern der Tennissport, der ähnlich wie das Golfspielen eher den wohlhabenden Gesellschaftsschichten vorbehalten bleibt. Dass auch Tennis den vollen körperlichen und geistigen Einsatz von den Spieler*innen fordert, beweisen nicht nur die TV-Übertragungen des Spitzensports etwa aus Wimbledon. Bei jedem Ballwechsel keucht und ächzt Mica, als ginge es um seine Existenz. Und eigentlich stimmt das sogar.

Holger Twele

 

© DFF (Lucas Festival)
10+
Spielfilm

Mica - Frankreich, Marokko 2020, Regie: Ismaël Ferroukhi, Festivalstart: 01.10.2021, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 10 Jahren, Laufzeit: 104 Min. Buch: Ismaël Ferroukhi, Fadette Drouard. Kamera: Eva Sehet. Schnitt: Elif Uluengin. Produktion: Elzévir Films, La Prod., Orange Studio, Moon a Deal Films. Verleih: offen. Darsteller*innen: Zakaria Inan (Mica), Sabrina Ouazani (Sophia), Mohammed Azelrab Kaghat (Hajj Kaddour), Moumen Mekuoar (Nabil), Ali Missoum (Omar) u. a.