Kritiken > Filmkritik
Kritiken > Vorgestellt im Februar 2021 > Stichtag

Stichtag

Auf Joyn: An der Oberfläche derbe Comedyserie, die jedoch sehr authentisch wirkt und mit ihren leisen Zwischentönen überrascht.

Eine deutsche Jugend-Comedyserie über eine Sexwette unter 15-Jährigen? Das hört sich nach tumben Klischees und abgehalfterten Zoten an. Hier aber ist nicht nur die Location – das schmuddelige München der Vororte – erfrischend anders. Dialoge direkt von der Straße, lebensnahe Charaktere, die das Lebensgefühl einer Generation zwischen YouTube und Verlorenheit spiegeln. Die Macher*innen der als Webserie konzipierten, knackig-kurzen Episoden weisen eine lange, auch erfolgreiche Vita im Kurzfilmbereich auf. Regisseur und Co-Autor Christof Pilsl konnte sich mit seinen Mitstreiter*innen bereits über einen Grimme-Preis für die Jugendserie „5vor12“ (BR, KIKA) freuen. Das Besondere an „Stichtag“ aber ist vor allem das Drehbuch, die pointierten Dialoge, die keine Derbheit scheuen, aber die Jugendlichen in ihren Sorgen und Nöten ernstnehmen. Feine Nuancen versteckt hinter großspurigem Jugendslang. Der junge Cast liefert eine überzeugend authentische Leistung, allesamt unbekannte neue Gesichter, bis auf die Darstellerin der Samira, eine Social-Media-Influencerin.

Die Mädchenclique um Laura, Samira und Alina hängt gelangweilt am Anfang der Sommerferien auf den Betonplätzen des Viertels ab, als Emi auftaucht und alles anders wird. Plötzlich schwirren die Jungs um die Neue, vor allem Yannick und Aleks sind interessiert, während die äußerlich so selbstbewusste Samira heimlich Yannick nachtrauert, obwohl die Sache mit dem Sex mit ihm so gar nicht klappen wollte. So weit so kompliziert. Anton ist in Laura verknallt, der nachdenkliche Nino ist viel zu schüchtern, Alina hat Stress mit ihren älteren Brüdern, wenn sie sich auch nur ein enges T-Shirt anzieht und alle reden über Sex. Eine alberne Wette der Jungs soll Schwung in die tristen Ferien bringen: Wer bis zum Ende seine Jungfräulichkeit nicht verloren hat, muss nackt über den Schulhof laufen. Eine wahre Horrorvorstellung.

Drogen gehören zum Alltag selbstverständlich dazu. Kiffen, Alkohol, wenn Party gemacht wird auch mehr. Die Sprache: derb und direkt. Der Humor: zielgenau, aus den Figuren entwickelt, Situationskomik entsteht hier aus den leisen Zwischentönen und der Sprache der Jugendlichen. Hinter all dem großspurigen Getöse über Sex verbirgt sich bei allen eine große Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung. Emi will sich aufsparen. Aber sie mag Aleks, der sich um seine kranke Mutter kümmert. Trotzdem klaut sie deren lebenswichtige Medikamente, sie hat ein Drogenproblem. Samira arbeitet an ihrem Image als sexy YouTube-Blondine, aber sie wäre so gerne mit Yannick zusammen.

Besonders an diesen acht Serienprotagonist*innen ist, dass sie sich nicht auf ein Klischee festlegen lassen und zugleich Klischees kritisch hinterfragen. Laura ist das emotionale Zentrum, sie ist beleibt, aber muss hier nicht die lustige Dicke geben. Im Gegenteil, sie wird heftig begehrt und ist als einzige in der Lage, mit ihren Gefühlen direkt und offen umzugehen. Ebenso Anton, der zunächst wie der Clown der Clique wirkt. Aleks ist Kurde/Albaner und derjenige, der die Gefühlswelt der Mädchen am ehesten begreift. Samira gerät zwar in eine heftige Rivalität mit Emi, aber im Ernstfall halten die Mädchen fest zusammen. Die Eltern unterdessen sind kaum vorhanden, alle kommen aus Single-Haushalten. Emis Hipster-Vater bringt zwar auch Verständnis auf, gleichzeitig aber kann er noch nicht mal Verantwortung für sein eigenes Leben übernehmen. Yannicks Vater hingegen ist von der alten Schule, ein Gürtel soll dem Sohn Mannhaftigkeit einprügeln. Auf direktem Wege wird hier auch erzählt, wie überkommene Männlichkeitsideale direkt ins Verhängnis führen.

Der Ernstfall, das ist eine Grenzüberschreitung, die passiert, weil sich Yannick zu viel Druck macht. Sie passiert, weil Sehnsucht nach Zuwendung mit Anerkennung über Sex verwechselt wird, weil Drogen im Spiel sind und nicht alle so verantwortungsbewusst wie Laura oder Aleks. Am Ende ist der größte Liebesbeweis vielleicht der, eben keinen Sex zu haben. Oder ehrlich zu sich selbst zu sein. Oder einfach zu akzeptieren, dass jung sein ganz schön schwierig und Freundschaft eine Menge wert ist. Wenn nicht vielleicht sogar das wichtigste im Leben.

Christiane Radeke

 

© Joyn
14+
Spielfilm

Stichtag - Deutschland 2020, Regie: Christof Pilsl, Homevideostart: 12.11.2020, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 10 x 17 Min. Buch: Jonas Brand, Christof Pilsl, Evi Prince. Kamera: Max Christmann. Musik: Giovanni Berg. Produktion: Felix Parson, Christoph „Ito“ Herrmann. Verleih: Joyn. Darsteller*innen: Elena Huber (Emi), Vedat Kocabay (Aleks), Melina Celine Hecklau (Samira), Vaso Fotoglidis (Laura), Ben Felipe (Yannick) u. a.