Kritiken > Filmkritik
Kritiken > Ergebnis der erweiterten Suche > Schwestern – Der Sommer, in dem wir allein waren

Schwestern – Der Sommer, in dem wir allein waren

Entdeckt beim „Schlingel‟ und preisgekrönt bei den Nordischen Filmtagen: Zwei Schwestern allein in der Wildnis.

Warum das Angenehme nicht mit dem Nützlichen verbinden? Vielleicht haben sich das Arild Østin Ommundsen und Silje Salomonsen auch gedacht, als sie mit ihren beiden Töchtern Vega und Billie den Sommer investierten, um in der norwegischen Natur zu entspannen, zu wandern, zu zelten und Spaß zu haben – und „nebenbei“ auch gemeinsam einen Kinderfilm drehten. Das Ergebnis jedenfalls war der Mühe wert und entstanden ist ein wunderbar verspielter, sehr eigenständiger und poetischer Film, der voll auf die subjektiven Erlebniswelten der beiden Mädchen in ihrer Interaktion setzt. Und da die leibliche Mutter der Kinder auch noch in einer Band spielt, die den Musikscore lieferte, war das kleine Drehteam fast schon perfekt.

Die neunjährige Vega, die in dieser Geschichte eines außergewöhnlichen Sommers auch als Ich-Erzählerin fungiert, ist praktisch-technisch veranlagt und felsenfest davon überzeugt, dass sie sogar mit jeder Aufbauanleitung von IKEA zurechtkommt. Sie bezeichnet sich im Unterschied zu den anderen Familienmitgliedern aber fast schon beschämt als äußerst „regelkonform“ und ist damit das genaue Gegenteil ihrer fünfjährigen Schwester Billie, einem kleinen Energiebündel. Billie glaubt an magische Kräfte und an Einhörner und kleidet sich am liebsten als bunter Engel mit kleinen Plastikflügeln. Nachdem die Mutter eine „Auszeit“ im Krankenhaus genommen hat, um endlich wieder einen Ruhepol für sich zu finden, unternimmt der Vater einen mehrtägigen Ausflug in die unberührte norwegische Natur. Ähnlich wie Billie schießt er stets über die Stränge. Und er möchte seinen Töchtern die bestmögliche aller Zeiten bieten.

Auf ihrem Ausflug erfahren sie, dass der Vater mit einem Kartentrick zaubern kann, aber sie lernen auch ganz praktische Dinge, etwa wie man auf einen Baum klettert, um die Übersicht zu behalten, oder wie man einen Fisch mit bloßen Händen fängt. Zumindest theoretisch, denn so ganz klappt das beim Vater nicht. Kurze Zeit später rutscht er auf einem Felsen ab und fällt in eine tiefe Felsspalte, aus der er sich mit eigener Kraft nicht befreien kann, und das Smartphone hat den Sturz nicht überstanden. Die beiden Schwestern sollen Hilfe holen und den Weg zurückfinden, trauen sich aber nicht allein über eine schwankende Holzbrücke. Sie nehmen einen Umweg den Fluss entlang, verlaufen sich komplett und verbringen zwei Nächte ganz auf sich allein gestellt in freier Natur. Erst gegen Ende des Films treffen sie wieder auf ihren immer noch in der Felsspalte festsitzenden Vater, gewandelt als Superheldinnen und vielleicht mit mehr als nur einer rettenden Idee.

Was die Reise der beiden Schwestern zu einem besonderen Filmerlebnis macht, ist weit mehr als der originäre Filmstoff, der einmal mehr den Beweis antritt, dass auch kleine Geschichten ohne spektakuläre Tricks und Action-Elemente einen guten Film ausmachen können. Es sind vor allem die schönen Bilder der Natur und die ins rechte Licht gerückten Bilder der beiden Kinder mit ihren Spielen und kleinen Streitereien, die aus ihrer unterschiedlichen Wahrnehmung der Welt und ihren jeweiligen Charaktereigenschaften resultieren. Über den Mikrokosmos der Familie vermitteln die Kinder, dass Streit und Versöhnung zusammengehören, dass es gerade die unterschiedlichen Stärken und Fähigkeiten sind, die dazu beitragen, Probleme besser bewältigen zu können, niemals aufzugeben und schließlich den eigenen Weg zu finden. So gesehen ergänzen sich auch Zauber, Fantasie und Magie mit einer eher rational geprägten Weltsicht zu zwei Seiten einer Medaille. Und ohne das sprachlich jemals dingfest zu machen und damit seiner Vielschichtigkeit zu berauben, erleben die Kinder und mit ihnen das Publikum auch einen relativ wertfreien Umgang mit Menschen in der Psychiatrie, mit einem erwachsenen Phobiker in freier Natur, der seinen eigenen Weg noch nicht ganz gefunden hat, und mit alten Menschen, die vereinsamt sind und unter Demenz leiden.

Holger Twele

 

© (c) Chezville AS; Quelle: Nordische Filmtage Lübeck
6+
Spielfilm

Tottori! Sommeren vi var alene - Norwegen 2020, Regie: Arild Østin Ommundsen, Silje Salomonsen, Festivalstart: 16.10.2020, FSK: ab , Empfehlung: ab 6 Jahren, Laufzeit: 77 Min. Buch: Arild Østin Ommundsen, Silje Salomonsen. Kamera: Arild Østin Ommundsen. Musik: Thomas Dybdahl. Schnitt: Silje Salomonsen, Arild Østin Ommundsen. Produktion: Chezville. Verleih: offen. Darsteller*innen: Vega Østin (Vega), Billie Østin (Billie), Thomas Skjørestad (Vater), Nina Ellen Ødegård (Mutter), Mette Langfeldt Arnstadt (Alte Dame) u. a.