Kritiken > Filmkritik
Kritiken > Vorgestellt im Oktober 2020 > Der geheime Garten

Der geheime Garten

Auf sich allein gestellt finden drei Kinder in einem verwilderten Garten einen Zufluchtsort, in dem sich ihre Freundschaft entwickelt.

Augen auf beim Buchkauf! Wer jetzt den Roman „Der geheime Garten“ mit dem Label „Das Buch zum Film“ erwirbt, bekommt nicht den Kinderbuchklassiker von Frances Hodgson Burnett aus dem Jahr 1911, sondern einen Roman von Linda Chapman nach Jack Thornes Drehbuch. Ist das raffiniertes oder dreistes Marketing? Vom Originalroman ist denn auch nur noch eine Rumpfhandlung in der Filmadaption übrig geblieben, ergänzt durch ein paar dramatische Szenen, die bei Burnett nicht vorkommen und die für den Verlauf der eigentlichen Handlung nicht entscheidend sind.

Weil ihre Eltern auf tragische Weise verstorben sind, kommt die zehnjährige Mary nach dem zweiten Weltkrieg von Indien nach Großbritannien, auf das Landgut Misselthwaite zu Onkel Archibald. In dem riesigen und sehr düsteren Gutshaus muss sich das Waisenmädchen allein zu Recht finden, für ihre alltäglichen Bedürfnisse ist zwar gesorgt, aber emotional wird sie vernachlässigt. Den Onkel sieht sie fast gar nicht.

Regisseur Marc Munden hat einen bildprächtigen, perfekt durchkomponierten Film erschaffen, der „very british“ anmutet und die Atmosphäre der Grafschaft mit ihren Mooren und der nebelverhangenen Natur in Szene setzt. Der Kontrast zwischen drinnen im Schloss und draußen in Park und Wald könnte kaum größer sein. Die Zimmerfluchten sind düster und endlos lang, die Einrichtung des Hauses ist karg und ohne jedes Accessoire. Nie gibt es hier genug Helligkeit. Draußen aber warten Abenteuer und die Weite der Landschaft und ein Hund, mit dem Mary sich anfreundet. Nicht nur der Hund wird sich als wichtiger Wegweiser zum geheimen Garten erweisen, sondern auch ein vorlautes Rotkehlchen, das Mary zum Versteck des verrosteten Gartentorschlüssels führt. Hinter dem Tor erwartet Mary eine fantastische Choreographie bezaubernder Blütenmeere und baumhoher Blätter. Eine magische Welt, die die triste Realität ausblendet. Im Garten herrscht kreatives Durcheinander der Pflanzenstrukturen als Gegenentwurf zum Gutshaus mit seiner symmetrischen Architektur. Hier kommt der Film dem Roman sehr nahe, denn diese entgegensetzten Prinzipien bestimmen auch die literarische Vorlage, atmosphärisch gelingt dem Film hier eine angemessene Umsetzung.

Mit der Erkundung der Natur draußen, steigt Marys Neugier innerhalb des Schlosses. Ein Wimmern und Rufen lässt sie durch die langen Gänge schleichen, bis sie ihren Cousin Colin in einem riesigen Bett entdeckt, der von sich behauptet, einen Buckel zu haben und nicht laufen zu können. Colin und Mary sind in ihrer unfreundlichen und schroffen Art wesensverwandt, wurden sie doch beide von Diener*innen aufgezogen anstatt von ihren Eltern. Sowohl in Indien als auch auf Gut Misselthwaite lebten sie bisher weit weg jeglicher Normalität, was sie ganz intuitiv nun einander näher bringt. Von jetzt an werden Mary und Colin sich stützen, und mit dem jungen Dickon gesellt sich ein Dritter dazu, der sich außerhalb des Schlosses bestens auskennt.

Mit zunehmender Freundschaft der drei nimmt auch das Selbstbewusstsein von Cousine und Cousin zu, indem sie erkennen, was Zuneigung füreinander bedeutet. Auf den Spuren ihrer verstorbenen Mütter, die Zwillingsschwestern waren, schaffen sie eine neue familiäre Identität. Immer wieder flackern Rückblenden aus ihrer gemeinsamen Kindheit auf, sodass wir die psychologischen Hintergründe erfassen, die zum Leid der Kinder führten. Diese Rückblicke sind in hellen fröhlichen Farben als Kontrast zur Düsternis des Hauses inszeniert.

Dass Colin das Gehen wieder lernen wird, ist kein Spoiler, das weiß man von Beginn an. Allerdings liegt in seiner Gesundung auch der größte Unterschied zwischen der Romanvorlage von Burnett und der Adaption. Im Buch erobern sich die drei Kinder den verwilderten Garten, indem sie unermüdlich jäten, aufräumen und Blumen neu erblühen lassen, und so wie der Garten sich regeneriert, so tut es auch Colin. Im Film ist es aber der Garten, der heilt, weil er schon von Beginn an so prächtig und farbenfroh ist. Er mutiert in der Adaption von einem geheimen zu einem magischen Garten, der Zauberkräfte hat. Mit dieser Abwandlung aber wird der emotionale Anteil, den die Kinder an Colins Heilung haben, geschmälert, weil er den Wunderkräften des Gartens zugeschrieben wird und nicht den Stärken der Freundschaft.

Katrin Hoffmann

© Studiocanal
9+
Spielfilm

The Secret Garden - Großbritannien 2019, Regie: Marc Munden, Kinostart: 15.10.2020, FSK: ab 6, Empfehlung: ab 9 Jahren, Laufzeit: 100 Min. Buch: Jack Thorne, nach dem Roman von Frances Hodgson Burnett. Kamera: Lol Crawley. Musik: Dario Marianelli. Schnitt: Luke Dunkley. Produktion: Heyday Films, Studiocanal. Verleih: Studiocanal. Darsteller*innen: Dixie Egerick (Mary), Edan Hayhurst (Colin), Amir Wilson (Dickon), Colin Firth (Onkel Archibald), Julie Walters (Mrs. Medlock), Isis Davies (Martha) u. a.

Der geheime Garten - Der geheime Garten - Der geheime Garten - Der geheime Garten - Der geheime Garten - Der geheime Garten -