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In My Blood It Runs

Entdeckt bei „Lucas“: Ein eindringliches Plädoyer für Teilhabe und gegen Diskriminierung, erzählt von einem zehnjährigen Aboriginal.

Der zehnjährige Dujuan hat „es“ wirklich im Blut, ob er nun möchte oder nicht: die Geschichte der Arrernte- und Garrwa-Familien als Teil der australischen Ureinwohner*innen, der Aborigines. Sie gehören zu den „First Nations“ und wohnen heute vor allem in und bei der Stadt Alice Springs und im Sandy Bore Homeland. Die Vorfahren lebten seit mindestens 50.000 Jahren auf dem Kontinent. Mit der Inbesitznahme des gesamten Landes für die britische Krone am 28. April des Jahres 1770 durch Kapitän James Cook begann jedoch eine Zeit der systematischen Verdrängung der Ureinwohner*innen, die heute nur noch etwa ein Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die Zeiten der Unterdrückung und der gewaltsamen Assimilierung haben bei Dujuan und seinem Volk bis heute nichts von ihrem Schrecken verloren. Aber immerhin regt sich seit den 1960ern Widerstand unter den Aborigines, die ihre eigene Kultur und ihre Sprache behalten wollen. Eingestreute Archivaufnahmen in dem Dokumentarfilm „In My Blood It Runs‟ von Maya Newell verweisen mehrfach auf die Vorgänge zwischen 1910 und 1976, bei denen im Rahmen des „Allgemeinen Kinderfürsorgegesetzes“ weit über 100.000 Aborigine-Kinder und Mischlinge ihren Familien brutal entrissen und in Erziehungsheime gesteckt wurden, um sie ganz nach den Regeln und in der Sprache der weißen Herrscher umzuerziehen. Einer größeren Weltöffentlichkeit wurden diese gegen die Menschenrechte verstoßenden Aktionen erstmals durch den Spielfilm „Long Walk Home“ (2002) von Phillip Noyce bekannt, der auf realen Ereignissen basiert, für die sich die australische Regierung erst 2008 entschuldigt hat.

Dujuan, der vergleichsweise wohlbehütet bei seiner Großmutter und seiner Mutter aufwächst und später zu seinem weit entfernt wohnenden Vater geschickt wird, bekommt von der Entwurzelung und Entfremdung seiner Vorfahren unmittelbar nur aus den Erzählungen der Alten mit. Sowie aus dem widrigen Umstand, dass auch er eine englischsprachige Schule besuchen muss, die nicht von Aborigines geleitet wird, die ihm verhasst ist und in der er sich als Mensch zweiter Klasse behandelt fühlt. Überzeugt davon, dass sein Großvater ihm heilende Kräfte und ein gutes Wissen über Heilkräuter verliehen hat, fühlt er sich von den Lerninhalten der Schule abgestoßen und ausgeschlossen. Er rebelliert, zunächst mit Schulschwänzen, dann auch mit Sachbeschädigungen und kleineren Gewaltaktionen, die im Film niemals direkt gezeigt werden – ganz im Gegenteil. Die Kamera, die er gleich zu Beginn des Films selbst in die Hand nimmt und damit seine eigene Perspektive unterstreicht, die den gesamten Film durchzieht, präsentiert ihn als aufgeschlossenen, mitunter nachdenklichen und reflektierten, liebevollen und widerstandsfähigen, aber nie aufmüpfigen oder gar gewalttätigen Jungen. Selbst wenn sich seine Verwandten wiederholt hinter das Steuer setzen müssen, um ihn mitten in der Nacht aufzuspüren und wieder nach Hause zu bringen. Durch seine Erzählungen und vor allem durch die Kommentare der Großmutter, die ihre schützende Hand über ihn hält und darauf dringt, er möge nicht Englisch sondern Arrernte sprechen, wird dennoch deutlich, dass der Junge unter großem Druck und in einem Spannungsverhältnis steht, das ihn zu zerreißen droht. Hin- und hergerissen zwischen zwei Kulturen und Traditionen, zwei Sprachen, von denen ihm die eine durch das staatliche, westlich geprägte Erziehungssystem aufgezwungen wurde, und zwei vollkommen unterschiedlichen Lebensweisen, läuft er Gefahr, sich selbst zu verlieren, als Versager abgestempelt zu werden und seine Bestimmung als heilender Mensch zu verfehlen. Dabei hat er immer die im Film auch einmontieren Aufnahmen inhaftierter jugendlicher Aborigines abschreckend vor Augen, die im Gefängnis gefoltert wurden, weil sie sich den geltenden Vorschriften und Erwartungshaltungen widersetzten.

Visuell besticht der in dreijähriger Arbeit entstandene Film durch seine respektvolle Annäherung an die Menschen, wobei nur wenige Gesichter unkenntlich gemacht wurden. Es gibt viele Nah- und Großaufnahmen, insbesondere von Dujuan und seiner Familie. Zugleich weist der Filme eine politische Komponente auf, die von der Gemeinschaft der Aborgines getragen und unterstützt wird. In einer weiter gefassten Leseweise lässt sie sich gut auf den Umgang mit anderen Minderheiten übertragen. Der Film richtet sich offen gegen ein letztlich immer noch kulturimperialistisches Schulsystem, das den Aborigines ihre Sprache nimmt und ihnen genormte Lehrinhalte aufzwingt, die ihren Traditionen diametral zuwiderlaufen. Auf diese Weise fallen sie zwangsläufig aus dem Raster. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, Aborigines würden von einer guten Schulbildung nicht profitieren. Es ist eher so, dass nicht sie auf die Schule vorbereitet werden müssen, sondern die Schule sich auf sie und ihre Bedürfnisse einstellen sollte, etwa indem die Kinder von Aborigines statt von weißen Lehrkräften unterrichtet werden. Genau das forderte der kleine Dujuan 2019 nach dem Film übrigens auch vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, an den er sich persönlich gewandt hatte: „Ich möchte, dass Erwachsene aufhören, Aboriginal-Kinder im Gefängnis zu quälen. Ich möchte, dass meine Zukunft in unserer Sprache und Kultur verankert ist.“

Holger Twele

 

© Quelle: DFF
12+
Dokumentarfilm

In My Blood It Runs - Australien 2019, Regie: Maya Newell, in Zusammenarbeit mit Carol, Megan, James und Dujuan, Festivalstart: 25.09.2020, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 84 Min. Buch: Maya Newell. Kamera: Maya Newell. Musik: Benjamin Speed. Schnitt: Bryan Mason, Maya Newell, Simon Price. Produktion: Closer Productions, Kids Film. Verleih: offen. Mitwirkende: Carol Turner, Dujuan Turner, Megan Turner u. a.