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Kokon

Die Geschichte der ersten Liebe zwischen zwei jungen Frauen, authentisch, sinnlich und vielschichtig erzählt.

Berlin-Kreuzberg im Rekordsommer 2018: Alles klebt und stinkt und ist noch lauter als sonst. In dieser lähmenden Hitze stromern die vierzehnjährige Nora und ihre große Schwester Jule selbstbewusst durch ihr Revier am „Kotti“, dem Kottbusser Tor. Wenn sie nicht mit Jules bester Freundin Aylin bei Selfies, Joints und Lästereien auf dem Balkon chillen, sind sie mit ihrer deutsch-, türkisch- und arabischstämmigen Clique unterwegs und steigen ins Freibad ein. Nora macht mit, auch wenn sie nicht immer mithalten kann. Sie ist noch kindlicher und buchstäblich zerbrechlicher als die coolen Freund*innen ihrer Schwester, nicht nur beim pubertären „Fingerkloppe“-Spiel. Doch alles ändert sich, als Nora der wilden Romy begegnet. Plötzlich ist die Hitze nicht nur äußerlich spürbar: Dies wird für Nora der Sommer ihrer ersten Liebe, ihres ersten Mals – und ihres ersten Liebeskummers.

Regisseurin Leonie Krippendorff, die auch das Drehbuch schrieb, stellt wie bereits in ihrem preisgekröntem Langfilmdebüt „Looping“ (2016) eine lesbische Beziehung starker und unkonventioneller Mädchen beziehungsweise junger Frauen in den Mittelpunkt. Besonders am Herzen liegt ihr die Thematisierung weiblicher Körperlichkeit in all ihren Facetten. Konsequent inszeniert die Regisseurin dann auch (erste) Menstruation oder Masturbation, realistisch und ohne falsche Scham. Größtes Lob gebührt hierbei insbesondere Lena Urzendowski und Jella Haase für ihre ungekünstelte Darstellung des jungen Liebespaars. Beider Ausstrahlung und die Chemie zwischen ihnen ist auch für das Publikum spürbar und macht viel von der Magie dieses Films aus. Die wandlungsfähige Jella Haase („Fack ju Göhte“), aktuell auch in Burhan Qurbanis „Berlin Alexanderplatz“ (2020) zu sehen, gibt die charismatische und selbstbewusste Romy. Lena Urzendowski („Der große Rudolph“) überzeugt als introvertierte, dabei lebenshungrige und neugierige Nora, die zunehmend eigene Wege geht und sich allmählich vom Kind zur jungen Frau wandelt. Dritte im Bunde der bereits mehrfach ausgezeichneten jungen Schauspielerinnen, die in „Kokon“ verblüffend glaubhaft ihre wesentlich jüngeren Figuren spielen, ist Lena Klenke („Fack ju Göhte“) als mal zugewandte, mal ätzend aufgelegte große Schwester Jule.

Die in Kreuzberg aufgewachsene Regisseurin wählt einen nahezu dokumentarischen Stil, um das authentische Lebensgefühl der jungen Protagonist*innen zu vermitteln. Nicht nur darin erinnert „Kokon“ an „Prinzessinnenbad“ (Bettina Blümner, 2007) den Dokumentarfilm um drei Kreuzberger Freundinnen. Unverfälscht geben die Dialoge die Sprache der Jugendlichen und den ruppigen Umgangston untereinander wieder. Sehr genau beobachtet sind ihre Rituale und Gepflogenheiten, allem voran der Umgang mit den omnnipräsenten digitalen Medien. Anders als Jule oder Aylin kann Nora mit dem Rollendiktat der dort vermittelten (bildbearbeiteten) perfekten Körperbilder herzlich wenig anfangen. Auch teilt sie nicht das Interesse an David, dem aktuellen Objekt der hormonellen Begierde der älteren Mädchen. Nora nimmt sehr genau wahr, dass sie auf andere, auf weibliche Reize reagiert. Da ist die zu Rate gezogene Lehrerin keine Hilfe, wenn sie Noras Faszination für den weiblichen Körper ausweichend herunterspielt.

Der Abstand zwischen den digital natives und der Generation der Eltern und Lehrer*innen könnte kaum größer sein. Folgerichtig klammert der Film Erwachsene weitgehend aus. Nicht die Mutter (und auch nicht die gerade eingeschnappte Schwester), sondern ein YouTube-Tutorial ist Noras erste Anlaufstelle zum Thema Tamponanwendung. Nora und Jule sind in besonderer Weise auf sich gestellt, denn Mutter Vivienne ist zuverlässig nur in der Kneipe zu finden. Zwar freut sie sich dort über den nächtlichen Besuch ihrer hübschen Töchter, aber kümmert und interessiert sich ansonsten wenig. Kühlschrank leer, Klopapier alle – völlig normal. Auch den Weg zur Notaufnahme bewältigen die Mädchen allein.

So autark die Schwestern auch sind, so verletzlich sind sie. Der Babysimulator offenbart Jules Sehnsucht nach einer intakten Familie. Hinter ihrer abgebrühten Fassade steckt immer noch die kindliche Hoffnung auf eine fürsorglichere Mutter, die jedes Mal aufs Neue enttäuscht wird. Die Figur der Mutter ist etwas eindimensional geraten. Man fragt sich, wie die Mädchen es bis hierher geschafft haben, ohne Verwahrlosung oder Sozialamt.

Bemängeln ließe sich auch die reichlich abgenutzte Allegorie des Titel gebenden Kokons, die inszenierte Entwicklung einer Raupe zum Schmetterling entsprechend Noras Emanzipationsschritten. Die Szene, in der die Schüler*innen ihre Interpretation einer „abstrakten Darstellung ihrer Gefühle“ präsentieren, kommt als recht ungelenkes Lehrstück daher. Damit wären die größten Schwächen des Films aber abgehakt.

Am stärksten ist der Film, der für die Vorauswahl zum Deutschen Filmpreis „Lola‟ 2020 nominiert war, in seinen leiseren und dialogfreien Szenen, in denen das Publikum gleichsam Noras neugierigen und unbefangenen Blick auf das Leben teilt. Hitze und Großstadtdreck, Lust und Sinnlichkeit sind in den leuchtenden Bildern von Martin Neumeyers Kamera vortrefflich eingefangen.

„Kokon“ ist ein gelungener Coming-of-Age-Film, der die immer schon wesentlichen Fragen nach (sexueller) Orientierung und Identitätsfindung stellt. Die Bedeutung von Familie, Geschlechterrollen und Vorbildern, von medialer Selbstinszenierung und Mode- und Körperdiktaten wird hinterfragt, ohne zu (ver)urteilen. Als Eröffnungsfilm der Jugendsektion 14+ bei der Berlinale 2020 war „Kokon“ ebenso ideal platziert wie nun im Verleih der Edition Salzgeber, die für ihr starkes queeres Filmangebot bekannt ist. Eine wunderbare filmische Liebeserklärung an das Leben, die Liebe, den Sommer – und an Kreuzberg.

Ulrike Seyffarth

© Salzgeber
13+
Spielfilm

Kokon - Deutschland 2020, Regie: Leonie Krippendorff, Kinostart: 13.08.2020, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 13 Jahren, Laufzeit: 94 Min. Buch: Leonie Krippendorff. Kamera: Martin Neumeyer. Musik: Maya Postepski. Schnitt: Emma Alice Gräf. Produktion: Jost Hering. Verleih: Salzgeber. Darsteller*innen: Lena Urzendowsky (Nora), Jella Haase (Romy), Lena Klenke (Jule), Elina Vildanova (Aylin), Anja Schneider (Mutter Vivienne) u. a.

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