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Jumbo

Entdeckt bei der Berlinale (14plus): Ein etwas anderer Liebesfilm, der dennoch mit vertrauten Themen aufwartet.

Eine 17-Jährige und ihre erste große Liebe. Sie gilt einem hochmodernen Fahrgeschäft namens Jumbo auf einem Rummelplatz, einem hydraulisch gesteuerten Giganten aus purem Stahl. Nichts selbstverständlicher als das, sexuelle Erfüllung inbegriffen, oder etwa nicht? Der Debütfilm der gebürtigen Belgierin und Kosmopolitin Zoé Wittock im Wettbewerb von Generation 14plus sorgte für ausverkaufte Häuser und polarisierte das Publikum. Eigentlich verwunderlich, denn „Jumbo“ ist strukturell betrachtet eine klassische Liebesgeschichte und obendrein ein typischer Coming-of-Age-Film mit allen gängigen Zutaten – im Zeitalter der Kybernetik und der künstlichen Intelligenz nur eben mit einer etwas anderen Perspektive.

Liebesbeziehungen zwischen Mensch und Maschine sind nicht neu. Bereits der Science-Fiction-Filmklassiker „Blade Runner“ (Ridley Scott, 1982) wusste davon anrührend zu erzählen, wobei der Unterschied zu „Jumbo“ darin besteht, dass die Maschine in diesem Fall keine unmittelbar menschlichen Züge mehr trägt: Aber vermochte nicht auch schon Pixars CGI-Film „Wall-E“ (Andrew Stanton, 2008) über die Liebe einer abgewrackten Maschine zu einem Computer der neuesten Generation unser tiefstes Mitgefühl zu wecken? „Jumbo“ ist allerdings nicht dem Science-Fiction-Genre zuzuordnen, sondern spielt ganz in unserer heutigen Realität. Und die ist für die Protagonistin Jeanne alles andere als erfreulich.

Jeanne wächst bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf, die ihren Frust über die gescheiterte Beziehung mit Jeannes Vater voll auf ihre Tochter ablädt. Dementsprechend verunsichert, schüchtern und Männern gegenüber negativ eingestellt ist Jeanne. Sie wird von Noémie Merlant dargestellt, die kurz zuvor die Hauptrolle in „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ (2019) von Céline Sciamma spielte. Als Jeanne einen Aushilfsjob auf einem Rummelplatz annimmt, bei dem sie abends die Fahrgeschäfte reinigen und den Abfall entsorgen muss, fühlt sie sich von einer in der Luft rotierenden Attraktion geradezu magisch angezogen. Diese Maschine ist stark, mit den in allen Farben blinkenden Lichtern äußerst attraktiv und vermittelt ihr trotz der heftigen Turbulenzen beim Abheben in den Sitzen ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Ihr Arbeitgeber Marc, der sich ebenfalls für die Heranwachsende interessiert, hat gegen solche überragenden Eigenschaften kaum eine Chance. Weder Marc noch Jeannes Mutter und schon gar nicht die Umwelt können nachvollziehen, warum sich Jeanne ausgerechnet in diese Maschine verliebt. Alle halten sie für verrückt, bis am Ende eine Figur auftaucht, von der man es ebenfalls nicht erwarten würde, die der jungen Frau gegenüber aber genau das Verständnis aufbringt, das sie bei anderen vergeblich suchte.

Auf diese Weise bringt der schräge Film genau das auf den Punkt, was unzählige Filme zuvor schon anders thematisierten: die Unfähigkeit mancher Eltern und Erwachsenen, die Liebeswahl von jungen Menschen zu verstehen und zu akzeptieren, von Menschen mit und ohne Behinderungen etwa, von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Hautfarbe und sexueller Orientierung, von Arm und Reich, von Außenseiter*innen und in der Gesellschaft voll Integrierten. Macht es da wirklich einen Unterschied, dass es diesmal um eine Beziehung zwischen Mensch und Maschine geht? Kommunen und Standesämter müssen jedenfalls nicht befürchten, dass der Film Nachahmer*innen findet und demnächst bauliche Umbaumaßnahmen erforderlich sein könnten, falls sich ein Mensch mit einem Fahrgeschäft vermählen möchte. Dem Medium Film ist prinzipiell zu eigen, dass es zwar immer nur auf gegenständliche Abbildungen zurückgreifen, zugleich aber wie keine andere Kunstform Gefühle, Innenwelten, Träume und Albträume visualisieren und vermitteln kann. Spätestens in der Szene, in der Jeanne auf einer zweidimensionalen Fläche dreidimensional in das Hydrauliköl von Jumbo eintaucht und symbolisch den Geschlechtsakt vollzieht, sollte klar sein, das der Realitätsanspruch des Films nicht unmittelbar oder gar in obszöner Weise zu verstehen ist. Unzählige Werbeaufnahmen mit ölverschmierten Körpern haben ähnliche Assoziationen lange zuvor vorweggenommen. Das einzige, was man „Jumbo“ vorwerfen könnte, ist ein möglicherweise restauratives Rollenverständnis, wobei die Frau für das Filigrane, die inneren Werte und künstlerische Selbstverwirklichung steht und der Mann beziehungsweise das Fahrgeschäft für das Grobe zuständig ist und Geld in die Haushaltskasse wirbelt.

Holger Twele

© © Caroline Fauvet / Berlinale Generation
16+
Spielfilm

Jumbo - Frankreich, Belgien, Luxemburg 2019, Regie: Zoé Wittock, Festivalstart: 26.03.2020, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 93 Min. Buch: Zoé Wittock. Kamera: Thomas Buelenz. Musik: Thomas Roussel. Schnitt: Thomas Fernandez. Produktion: Insolence Production, in Koproduktion mit Les Films Fauves und Kwassafilms. Verleih: offen. Darsteller*innen: Noémie Merlant (Jeanne), Emmanuelle Bercot (Margarette, Jeannes Mutter), Sam Louwyck (Hubert), Bastien Bouillon (Marc), Tracy Dossou (Fati) u. a.

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