Die Adern der Welt
Im Kino: Eine in der Mongolei angesiedelte Familiengeschichte, die Coming-of-Age-Themen und Gesellschaftskritik verbindet.
Unberührte, leicht hügelige Steppenlandschaften unter blauem Himmel, kleine Flüsse, die sich durch die unendliche Weite dieser Gegend schlängeln, und inmitten dieser Naturidylle eine kleine Jurte, von außen unscheinbar, innen aber wohnliche Behaglichkeit ausstrahlend: So stellt man sich bis heute die mongolische Steppe vor und Filme, die dort gedreht wurden, haben zu diesem Klischee beigetragen. Immer noch leben dort Nomad*innen, die im Wechsel der Jahreszeiten mit ihren kleinen Herden zu den jeweiligen festen Weidegründen ziehen und im Grunde genommen sesshafter sind als so manche Wohlstandbürger*innen hierzulande, die sich viermal im Jahr einen Urlaub in der Ferne gönnen. Und natürlich sind die Nomad*innen in der Mongolei immer noch mit ihren Pferden unterwegs, was nicht heißt, die Motorisierung und die Unterhaltungselektronik mit Smartphones und Satellitenfernsehen hätte nicht längst auch dort Einzug gehalten. Ein Blick aus der Vogelperspektive zeigt hingegen, was sich in den vergangenen 20 Jahren wirklich verändert hat. Überall sind die tiefen Wunden zu erblicken, die der kommerziell betriebene Bergbau insbesondere nach Goldvorkommen in die Landschaft gegraben hat. 4,8 Prozent des gesamten Landes sind inzwischen in der Hand von Minenkonzernen, die illegalen Minen noch nicht mitgerechnet. Dort wächst kein Gras mehr, das Absinken des Grundwasserspiegels und die Vergiftung der Natur durch Abbauprodukte und Chemikalien bedrohen den Lebensraum der dort lebenden Menschen zusätzlich. Vor diesem sehr realen Hintergrund spielt der Debütspielfilm der in Ulaanbaatar geborenen Regisseurin Byambasuren Davaa, die an der HHF München studierte und 2003 mit ihrem ersten Dokumentarfilm „Die Geschichte vom weinenden Kamel“ durch eine Oscar-Nominierung international bekannt wurde – und wie bereits in ihren drei bislang gedrehten Dokumentarfilmen ist „Die Adern der Welt‟ eine Familiengeschichte über Generationen hinweg.
Der zwölfjährige Amra lebt mit seiner Mutter Zaya, dem Vater Erdene und der kleinen Schwester Altaa ein traditionelles Nomadenleben. Die Mutter kümmert sich mit der Tochter um die Ziegenherde, der Vater verkauft den Käse und repariert Maschinen aller Art und Amra geht zur Schule. Er träumt davon, in der Hauptstadt bei der Show „Mongolia’s Got Talent“ aufzutreten und dort ein Lied vorzusingen, das die enge Verbundenheit der mongolischen Nomaden mit der Natur vermittelt. Auf der Suche nach Gold drohen unterdessen internationale Minengesellschaften mit schwerem Gerät, aber auch illegal tätige Schürfer den Lebensraum der Nomaden zu zerstören. Während Zaya das Weideland verkaufen und wegziehen möchte, weil sie Widerstand für zwecklos hält, möchte Erdene standhalten und den Kampf gegen die Minengesellschaft aufnehmen. Ein tödlicher Unfall mit seinem Cabrio, auf dem er stolz einen Mercedes-Stern befestigt hat, durchkreuzt alle Pläne der Familie. Amra fühlt sich schuldig am Tod seines Vaters, der wegen seiner Bewerbung zum Talentwettbewerb eine Abkürzung gewählt hatte und dem ein Bohrloch einer illegalen Mine zum Verhängnis wurde. Begabt mit dem Reparatur-Talent seines Vaters schließt er sich ohne Wissen der Mutter einigen „Ninjas“ an, illegal arbeitenden Goldschürfern, die ihn dazu bewegen, unter Lebensgefahr selbst in den Schacht der Mine hinabzusteigen. Singen möchte Amra aufgrund seiner Schuldgefühle ohnehin nicht mehr. Von der Lehrerin erst erfährt Zaya, dass ihr Sohn angeblich krank sei und seit Wochen nicht mehr zur Schule geht. Dabei hat dieser doch die Ausschreibung gewonnen und könnte am Song-Contest in der Hauptstadt teilnehmen.
Nach den ersten Szenen, die darstellerisch mitunter etwas unbeholfen wirken und einer chronologischen Drehweise geschuldet sein könnten, nimmt der Debütspielfilm schnell an Fahrt auf und gewinnt große Intensität. Wie viele junge Mongol*innen seines Alters konnte Laiendarsteller Bat-Ireedui Batmunkh als Amra bereits vor den Dreharbeiten nicht nur gut reiten und singen, sondern sogar selbst schon Auto fahren. In der pittoresken Coming-of-Age-Geschichte inmitten einer fremdartig wirkenden und zugleich faszinierenden Umgebung geht es auch um typische Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens. Die Geschichte, und das ist das Besondere an diesem Film, ist aber auch stimmig und authentisch eingebettet in eine Warnung vor der Habgier des Menschen und in einen Appell für die Achtung vor der Natur und gegen die Zerstörung von Natur- und Kulturwissen. Exemplarisch dafür steht die heutige Mongolei als reiner Rohstofflieferant, wobei ähnliche Strukturen und Machtverhältnisse auch in anderen Staaten der Welt existieren, etwa in Afrika. Hier wie dort kommen Großkonzerne auf Kosten der einheimischen Bevölkerung mit falschen Versprechungen billig an Schürfrechte und Landbesitz. Die Filmemacherin ist davon überzeugt, dass nur die junge Generation Veränderungen in der Welt bewirken kann, allerdings auch nur in einem generationenübergreifenden Dialog. Insofern ist „Die Adern der Welt“ im besten Sinn des Wortes ein Film für die ganze Familie. Umso erstaunlicher, dass bis auf den rbb kein deutscher Sender diesen Film mitfinanzieren wollte.
Holger Twele
Diese Kritik erschien anlässlich der Aufführung im Programm von Generation Kplus im Rahmen der Berlinale 2020.
Die Adern der Welt - Deutschland, Mongolei 2020, Regie: Byambasuren Davaa, Festivalstart: 23.02.2020, Kinostart: 29.07.2021, FSK: ab 0, Empfehlung: ab 8 Jahren, Laufzeit: 95 Min. Buch: Byambasuren Davaa. Kamera: Talal Khoury. Musik: John Gürtler, Jan Miserre. Schnitt: Anne Jünemann. Produktion: Basis Berlin Filmproduktion, Mongol TV, Rundfunk Berlin-Brandenburg, ARTE. Verleih: Pandora. Darsteller*innen: Bat-Ireedui Batmunkh (Amra), Purevdorj Uranchimeg (Bataa), Algirchamin Baatarsuren (Altaa), Enerel Tumen (Zaya), Yalalt Namsrai (Erdene) u. a.
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