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Genesis

Auf Sooner: Ein Coming-of-Age-Film, der mit Standardsituationen beginnt, diese jedoch zunehmend gegen den Strich bürstet.

Auf den ersten Blick scheint es einer jener Internats- und Coming-of-Age-Filme zu sein, die zwar nicht überflüssig, aber immer nach dem gleichen Strickmuster gedreht sind. Guillaume – gespielt von Théodore Pellerin, der auch schon mit Xavier Dolan gearbeitet hat – besucht ein Internat, in dem er intelligent, witzig und vorlaut sogar dem sarkastischen Lehrer Paroli zu bieten weiß. Insbesondere die sportlichen Mitschüler*innen in der Klasse überzieht er mit Hohn und Spott. Beliebt bei den Mädchen, steht ihm eine glänzende Zukunft bevor, gerade auch in der Liebe. Seine um zwei Jahre ältere Halbschwester Charlotte – gespielt von Noée Abita, die 2016 ihr fulminantes Leinwanddebüt mit „Ava“ von Léa Mysius gab – wohnt noch zu Hause. Sie hat schon lange einen festen Freund, Maxime, der ihr aus heiterem Himmel vorschlägt, eine offene Beziehung zu führen, also im Klartext auch andere Partner auszuprobieren.

Die parallel erzählten Geschichten scheinen vorhersehbar, doch schnell wird klar, dass Philippe Lesage, der eigentlich vom Dokumentarfilm her kommt, seinen dritten Spielfilm inhaltlich und formal vollkommen gegen den Strich bürsten wollte. Immerhin hat es der Film in den Wettbewerb von Locarno geschafft, der für seine cineastische Ausrichtung bekannt ist. Guillaume wird plötzlich vom Lehrer schikaniert, nachdem er diesem vorgeworfen hatte, in einer konfliktbeladenen Konfrontation nicht zu sich selbst und der eigenen Meinung gestanden zu haben. Vor allem aber entdeckt er, dass er sich ernsthaft in seinen langjährigen besten Freund Nicolas verliebt hat, der dieser Situation in keiner Weise gewachsen ist. Das öffentliche Outing vor der ganzen Klasse wird abgesehen von Nicolas noch mit viel Beifall quittiert. Als er dann aber einem jüngeren, eigentlich nur verängstigten Mitschüler in der Nacht gestattet, in sein Bett zu kriechen, wird er entdeckt und hochkantig aus dem Internat geworfen. Seiner Schwester ergeht es nicht besser. Sie verliebt sich zum Leidwesen von Maxime tatsächlich in einen älteren Jungen, der aber nur das eine von ihr will, und wird dann auf einer nächtlichen Party im Regen brutal vergewaltigt.

Beide Geschichten kreisen um das natürlich Bedürfnis des Menschen, geliebt und geachtet zu werden, so sein zu dürfen, wie man ist und die eigene Meinung frei äußern zu können. Die Realität sieht freilich oft anders aus und trotz einer sich liberal gebenden Gesellschaft, die zeitlich bewusst nicht klar verortet ist und Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander verbindet, scheint es heute nicht einfacher geworden zu sein in der Liebe und mit den Gefühlen. Immer wieder wird die Parallelhandlung von minutenlangen Sequenzen in der Disco oder auf einer Party unterbrochen, in der die sprachliche Verständigung aufgrund der überlauten, zum Glück aber nie übersteuerten Musik unmöglich ist. Diese Szenen wirken im Unterschied zu den bis zum Überdruss inszenierten standardisierten Disco-Szenen heutiger Teenagerfilme fast dokumentarisch, vermitteln einiges von den Sehnsüchten dieser Jugendlichen wie auch von den Schwierigkeiten der Kommunikation.

Eigentlich könnte der Film zu Ende sein, nachdem die beiden Geschichten ihren Kulminationspunkt erreicht haben. Nicht aber bei Philippe Lesage, der sehr viel autobiografisches Material in seine Filme einfließen lässt. Er hängt eine dritte, völlig eigenständige Geschichte an, die in einem Feriencamp unter Zwölfjährigen spielt. Dort haben Félix und Béatrice ihr Herz füreinander entdeckt, aber noch nicht gelernt, ihre Gefühle in Gegenwart anderer offen zu zeigen und sie auch zu leben. Aber ihre Gefühle sind echt und unverstellt, noch nicht von der Gesellschaft korrumpiert. Sie entspringen offenbar einem elementaren Bedürfnis nach Liebe – so lässt sich auch der Filmtitel interpretieren. Am Anfang war die Liebe. Was zunächst wie ein ganz anderer Film wirkt und scheinbar rein gar nicht mit dem ersten Teil des Films zusammenpasst, gewinnt in der Gesamtschau einen tieferen Sinn und rundet die Intention des Filmemachers ab. Nicht die möglichen Enttäuschungen, Konflikte, Bestrafungen und Tragödien sind wesentlich im Leben, sondern die Liebe an sich, völlig egal ob heterosexuell oder homosexuell. Oder wie es Lesage in seinem Statement selbst ausdrückt: „Meine Charaktere fordern das Recht zu leben, zu lieben und leidenschaftlich zu träumen. Sie sind noch zu jung, um sich selbst schützen zu können, sich an einen sicheren Ort zurückzuziehen oder gar aufzugeben. Am Ende ist es die Schönheit der Jugend, die niemals enttäuschen kann, sie ist die Zukunft.“

Holger Twele

 

 

© Be for Films (Weltvertrieb)
14+
Spielfilm

Genèse - Kanada 2018, Regie: Philippe Lesage, Festivalstart: 05.08.2018, Homevideostart: 01.01.2025, FSK: ab , Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 130 Min., Buch: Philippe Lesage, Kamera: Nicolas Canniccioni, Schnitt: Mathieu Bouchard-Malo, Produktion: Galilé Marion-Gauvin, Weltvertrieb: Be for Films, Besetzung: Noée Abita, (Charlotte), Théodore Pellerin (Guillaume), Édouard Tremblay-Grenier (Félix), Pier-Luc Funk (Maxime), Émilie Bierre (Béatrice), Maxime Dumontier (Théo), Paul Ahmarani (Perrier), Jules Roy Sicotte (Nicolas) u. a.

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