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Festivals | | von Holger Twele

Realistisch und authentisch?

„Hybridfilme“ in der Sektion Generation bei der "Berlinale" 2019

Noch nie gab es im Wettbewerb der Berlinale-Sektion Generation so viele dokumentarische Mischformen wie 2019. Auch im Kinder- und Jugendfilm sind solche Hybridfilme offensichtlich im Kommen. Hat der klassische Spiel- oder Dokumentarfilm damit ausgedient? Und wie steht es bei diesen Mischformen mit der Dramaturgie und dem Bezug zur Wirklichkeit? Hat der von dem Dokumentafilmer Thomas Schadt in seinem Buch zur Dramaturgie des Dokumentarfilms seinerzeit beschriebene Unterschied zwischen vorgefundener Realität (Dokumentarfilm) und möglicher Realität (Spielfilm) noch weiterhin Bestand?

Auch Dokumentarfilme haben eine subjektive Perspektive

Bevor unheilvolle Auflösungstendenzen vor dem geistigen Auge aufziehen, gilt es festzuhalten, dass die mangelnde Trennschärfe zwischen Spiel- und Dokumentarfilm die gesamte Filmgeschichte durchzieht. Schon der französische Filmemacher Jean-Luc Godard hatte in seiner Geschichte des Films darauf hingewiesen, dass „Die Ankunft eines Zuges in La Ciotat“ der Gebrüder Lumière aus dem Jahr 1896 nicht etwa wie häufig zu lesen der erste Dokumentarfilm war, sondern durch und durch inszeniert und geprobt worden ist. Erst viel später setzte sich die Erkenntnis durch, dass auch Dokumentarfilme eine subjektive Perspektive haben. Sie sollte im Film offen zum Ausdruck kommen, denn eine „neutrale“ Beobachtung mit der Kamera oder eine „objektive“ Berichterstattung ohne Vorauswahl bei der Cadrage bis zum Schnitt ist per se unmöglich.

Im Zeitalter von Reality-TV und Fake News gewinnt die immerwährende Diskussion über die Wirklichkeitsnähe von Filmen in direktem Bezug zur Authentizität des Gesehenen noch eine ganz andere Dimension und wird zur echten Herausforderung, der sich auch Hybridfilme stellen müssen. Denn das Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit und nach einer Authentizität, die unmittelbar mit der eigenen Lebenswirklichkeit verglichen wird, ist bei jungen Zuschauer*innen besonders hoch.

Wenn die Fiktion „echter“ wirkt

Da überrascht es nicht besonders, dass bei Kplus die beiden fiktionalen Debütfilme, die von der Kinderjury mit dem Gläsernen Bären beziehungsweise einer Lobenden Erwähnung ausgezeichnet wurden, weitaus authentischer und mitunter sogar „dokumentarischer“ wirkten als so mancher Hybridfilm, der mehr dem Schein als dem Sein verhaftet war. In dem kanadischen Coming-of-Age-Drama „Une colonie“ von Geneviève Dulude-De Celles etwa findet eine Zwölfjährige nach einem Schulwechsel auf der Suche nach ihrer Identität und in direkter Auseinandersetzung mit einem Jungen der „First Nations“ ihren Platz im Leben. Die große Authentizität ist neben der bereits filmerfahrenen Hauptdarstellerin den Umständen zu verdanken, dass der Film weitgehend autobiografisch ist und die Regisseurin jede Szene vorher so lange probte, bis sie absolut stimmig war. Dem französischen Film „Daniel fait face“ von Marine Atlan wiederum kommt sehr zugute, dass die Regisseurin zugleich die Kamerafrau ist. Ihr gelang es, in einer französischen Schule, in der parallel eine Theaterinszenierung und das Verhalten bei einem Terrorüberfall geübt wird, eine derart intime Atmosphäre zu erzeugen, dass alles echt und unverstellt wirkt, obwohl allein schon in der Wahl der filmischen Mittel durch Zeitlupe und Tondramaturgie deutlich gemacht wird, dass die Geschichte fiktional ist. Denn im Umkleidetrakt der Bühne wird der kleine Daniel in einer Mischung aus Angst und Neugier zum Voyeur gegenüber einer Mitschülerin, die er dann um Verzeihung bittet.

Beobachtungen, die inszeniert wirken

Das krasse Gegenstück zu dieser äußerst sublimen Beziehungsgeschichte ist „Kinder“ von Nina Wesemann, die mit ihrem Film vier Großstadtkinder aus Berlin mitsamt ihren Geschwistern beim Spielen, Feiern und Chillen im Verlauf eines Jahres beobachtet. Das erzeugt in den ersten Minuten noch Interesse, zumal die Protagonist*innen alle rundum sympathisch wirken. Nach einiger Zeit jedoch macht sich Langeweile breit, denn abgesehen von den sich ändernden Jahreszeiten wirkt der Film wie eine beliebige Aneinanderreihung von Situationen und Ereignissen ohne dramaturgischen Faden, eine Entwicklung oder gar eine kleine Geschichte. Gerade durch den suggestiven, angeblich rein beobachtenden Blick entsteht der Eindruck, dass letztlich alles gestellt und inszeniert wurde. Und auch die Zielsetzung des Films bleibt seltsam vage. Fast könnte man denken, in Berlin gäbe es nur selbstbewusste Großstadtkinder und die Probleme von Eltern, Erzieher*innen oder Jugendämtern mit solchen Kindern wären alle nur Fake. Schon der Dramatiker Bertold Brecht stellte fest, dass die reine Abbildung der Realität noch nichts über die Realität selbst aussagt.

Selbstinszenierung statt Scheinobjektivität

Die Bewusstmachung und Reflexion der künstlerischen Bearbeitung dokumentarischen Materials, die beim Publikum den versierten Umgang mit einer Kulturtechnik voraussetzt, um das Authentische erkennen zu können, sollte zumindest deutlich werden. Dies kann auf vielerlei Weise geschehen. Ganz offen und auf klassische Weise subjektiv etwa wie bei dem außer Konkurrenz gezeigten Dokumentarfilm „2040“ des Australiers Damon Gameau, der sich und sein Anliegen unmittelbar in den Film einbringt und sich auf diese Weise ähnlich wie der US-Regisseur Michael Moore selbst inszeniert. Gameau stelltsich zusammen mit Kindern die Frage, wie das Leben auf der Erde in 20 Jahren aussehen könnte. Dabei konzentriert er sich bewusst auf mögliche Lösungsansätze, spart weitgehend ungelöste Probleme wie etwa zur Zukunft des Verkehrs aus, bleibt aber in der Argumentation offen und damit überprüfbar.

Künstlerische Verfremdung

Ähnlich offen angelegt und zugleich filmisch ansprechend umgesetzt ist „Where We Belong“ von Jacqueline Zünd, zumindest werden das diejenigen unter den Zuschauer*innen empfinden, die mit Scheidungskindern und -eltern bereits auf eigene Erfahrungen zurückgreifen können. Für ihren auch formal beeindruckenden Dokumentarfilm hat die Filmemacherin Scheidungskinder aus drei verschiedensprachigen Kantonen der Schweiz porträtiert – jedoch nicht anhand scheinbar rein beobachtender Realitätsausschnitte oder in klassischer Interviewtechnik. Vielmehr blicken die farblich „verfremdeten“ Kinder immer wieder stumm direkt in die Kamera. Denn diese Kinder müssen sich zwischen zwei Elternhälften entscheiden, ohne das zu wollen: zwei Zwillingsschwestern, die unter dem ungleich verteilten Besuchsrecht leiden, zwei Jungen, die inzwischen in einem Heim untergebracht sind, sowie ein Bauernjunge, der nach der Trennung der Eltern und einem unlösbaren Vater-Sohn-Konflikt den Hof verlassen hat. Sehr schöne, atmosphärisch ungemein dichte Bilder stehen in starkem Kontrast zu den schwelenden Konflikten, die seitens der Eltern häufig auf Kosten der Kinder ausgetragen werden, wobei die Entwicklung von der Trennung der Eltern über Modalitäten des Besuchsrechts bis hin zur Gründung neuer Patchwork-Familien reicht. Die Kamera verharrt konsequent auf Augenhöhe der Kinder, gibt ihnen genügend Raum, während die Köpfe der Eltern im Bild abgeschnitten sind, oder man sieht sie nur unscharf oder von hinten. Ein Film, der auch betroffenen Kindern Mut macht und ihnen zumindest das Gefühl vermittelt, an der ganzen Misere nicht schuld zu sein.

Interessante Themen, unreflektiert inszeniert

Gleich zwei ethnografisch angehauchte Filme beschäftigen sich mit den Lebensumständen von Kindern in fernen Ländern, wobei die Faszination der von außen hinzustoßenden Filmschaffenden oft stärker spürbar ist als die innere „Notwendigkeit“, genau diesen Film drehen zu müssen. Die Italienerin Mo Scarpelli beispielsweise lernte einen technisch hochbegabten Hirtenjungen in Äthiopien kennen. In dem nach dem Protagonisten benannten Film „Ambessa“ lebt dieser mit seiner Mutter in ärmlichen Verhältnissen am Rande einer aus dem Boden gestampften Planstadt für wohlhabende Familien. Die Regisseurin betonte in Berlin zwar, dass der Junge genauso sei, wie ihn der Film zeigt. Gleichwohl schwankt der Film etwas unentschlossen zwischen mitunter zu langatmiger Abbildung der Realität und Szenen, die gestellt wirken, unabhängig davon ob sie es tatsächlich waren. Natürlich ist die Konfrontation zwischen Tradition und Moderne auf engstem Raum ein dankbares Sujet, das sich auch in aussagekräftigen Bildern einfangen lässt. Nur wäre der Film wohl um Längen besser und eindringlicher geworden, wenn man nicht ständig den eurozentristischen, westlich geprägten Blick spüren würde oder die Filmemacherin ihre eigene Präsenz unmittelbar im Film eingebracht und reflektiert hätte.

Ähnlich verhält es sich mit „Baracoa“ von Pablo Briones und The Moving Picture Boys, eine Koproduktion zwischen der Schweiz, den USA und Spanien, die aber auf Kuba angesiedelt ist und von der ungleichen, stark auf Machtausübung fixierten und dennoch freundschaftlichen Beziehung zwischen einem neun- und einem 13-jährigen Jungen handelt. Richtig stark in der zweiten Hälfte, als der Jüngere den bereits weggezogenen Freund in der Großstadt besucht, macht es der Film zu Beginn außerordentlich schwer, Interesse an den beiden Figuren zu entwickeln. Wenn man minutenlang fast nichts und niemanden erkennt und die Gespräche der beiden Kinder auch semantisch nur schwer zu verstehen sind, mag das bei einem Spielfilm vielleicht gerade noch Neugier wecken, bei einem dokumentarisch gedrehten Film bewirkt das eher das Gegenteil.Interessante Themen, unreflektiert inszeniert

Neue Impulse für die Vermischung von Beobachtung und Fiktion

Das Programm von Generation lockte – mitunter auch erschreckte – noch mit weiteren Hybridformen. „Kokdu – Eine Geschichte von Schutzengeln“ des südkoreanischen Regisseurs Kim Tae Yong ist eine künstlerisch herausragende, äußerst liebevolle Verbindung zwischen einem Spielfilm und einem inszeniertem Bühnenstück über die Mythen und Traditionen der koreanischen Sterbekultur, wobei zwei Kinder nach dem Tod der Großmutter aus Versehen selbst in das Zwischenreich der Toten und ins Bühnenstück gelangen. Ein stimmig umgesetztes Gesamtkunstwerk mit Kindern in den Hauptrollen, wenn auch nicht unbedingt für Kinder hierzulande ohne Vorkenntnisse nachvollziehbar.

Die größte Überraschung und Entdeckung war allerdings ein Film aus der Sektion 14plus, der am Ende zwar nicht einmal ausgezeichnet wurde, aber als Hybridfilm Weichen für die Zukunft gestellt hat, selbst wenn er nicht für das ganz große Publikum gedacht ist. Denn bei diesem Film ist man als Zuschauer*in unweigerlich ständig herausgefordert, sich zu überlegen, was real ist und was inszeniert und erfunden sein könnte. Im finnischen Beitrag „The Magic Life of V“ von Tonislav Hristov verschmelzen Realität und Fiktion, Traum und Wirklichkeit, Schein und Sein, Rollenspiel und Identität erst am Ende zu einem homogenen Ganzen, das Gefühl und Verstand gleichermaßen anspricht und herausfordert. Eine junge Frau (siehe auch Interview mit der Protagonistin), die sich nach einer traumatisch erlebten Kindheit viele Jahre lang in Live-Rollenspiele flüchtete, um zu überleben, findet für sich und ihren behinderten Bruder in direkter Konfrontation mit ihrer Vergangenheit zu ihrer Identität und zu neuem Lebensmut. Die klassischen Gegensätze von Schein und Sein münden hier in eine nicht für möglich gehaltene Synthese und zu größtmöglicher Authentizität.

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