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Festivals | | von Stefan Stiletto

Begeisterung, Politik, Küsse, Viren und noch ganz viel mehr

Unsere Berlinale Generation Pinnwand 2024

Die üblichen Festivalberichte kennen Sie schon. Wir versuchen das mal anders. Ein Rückblick auf die Berlinale-Sektion Generation 2024, als Sammlung von Eindrücken, Gedanken, Assoziationen, Beobachtungen – und als Anregung zum Nachdenken, Rekapitulieren, Schmunzeln. Von Christian Exner, Barbara Felsmann, Katrin Hoffmann, Ulrike Seyffarth, Kirsten Taylor, Holger Twele und Rochus Wolff.

Filmstill aus Young Hearts
"Young Hearts" (c) Thomas Nolf

Was machen wir hier eigentlich?

Gemeinsam Film erleben!

(von Kirsten Taylor)

Ende Januar haben Sektionsleiter Sebastian Markt und Melika Grothe der Presse das Programm von Generation vorgestellt. Dabei fiel auch dieser schöne Satz: „Filmbildung beginnt für uns mit dem gemeinsamen Filmerlebnis.“ Ab ins Kino!

 

Gemeinsam warten!

(von Rochus Wolff)

Die Berlinale will ja durchaus bewusst unter den Filmfestivals ein sehr politisches sein; jetzt aber greift die große Politik ganz konkret in die Eröffnungsfeier der Kinderfilm-Sektion ein. Rund um das „Haus der Kulturen der Welt“ (auch als „Schwangere Auster“ bekannt) sind die Straßen gesperrt, für Autos und Linienbusse kein Durchkommen. „Ich glaube, Netanjahu ist da,“ sagt der Polizist an der Straßensperre. „Vielleicht auch Selenskyj, uns sagt man ja nichts. Können Sie aber googeln.“ Die Eröffnung beginnt dann ein wenig verspätet, weil das Publikum nur eintröpfelt. Das kann aber auch daran liegen, dass das Personal die Kartenkontrolle noch einüben muss.

Gemeinsam Filme feiern!

(von Kirsten Taylor)

Wer mal was Anderes braucht, als die „Habe-ich-alles-schon-gesehen-Gesichter“ in den Vorstellungen von Wettbewerb, Forum & Co, sollte ins Kinderprogramm Kplus gehen: Als bei der Eröffnung mit Soleen Yusefs „Sieger sein“ das Licht im Saal ausgeht, der Suchscheinwerfer den Raum abtastet und der Berlinale-Trailer startet, ist kein Halten mehr: Das Publikum tobt und klatscht, immer wieder gibt es Szenenapplaus („Aber die Reichen klauen mehr, sagt mein Vater!“). So kann Begeisterung fürs Kino auch aussehen!

 

Gemeinsam zittern!

(von Christian Exner)

In meinem privaten Umfeld wissen alle, dass man mich im Februar für zwei Wochen abschreiben kann. Erst bin ich in Berlin und dann liege ich flach. Ausgerechnet 2020, als sich bei der Berlinale herumgesprochen hatte, dass eine lebensgefährliche Covid-Variante im Anmarsch ist, kam ich mal ohne Virenlast heim. Man hielt Abstand damals. Und heute? Ich schaue auf den Menschen, der mit seiner bellenden Bronchitis am Hotel-Buffet entlangflaniert, ich bekomme das Mikro gereicht von einem Menschen mit schwerst entzündeten Stimmbändern, ich fühle meine eigenen Stimmbänder rauer werden in der ätzenden Akustik eines Abend-Empfangs und ich denke nichts als: „Aerosole-Party“. Aber ich will es ja so: Neue und selten gesehene Filme sind einfach zu schön und zu verlockend. Andere stecken sich beim Karneval oder im Stadion an. Berlinale ist Berufskrankheit, ist professionelle Deformation. Aber: No risk no fun.

 

Diese Momente!

(von Ulrike Seyffarth)

Auf der Leinwand im gut gefüllten Miriam Makeba-Auditorium im Haus der Kulturen der Welt läuft der peruanisch-chilenische Film „Raíz“ aus der Sektion Generation Kplus. In der Sitzreihe hinter mir entbrennt zwischen zwei Zuschauer*innen im einstelligen Altersbereich ein Streitgespräch um die Identität des geliebten Herdentiers des Protagonisten:

- „Lama.“

- „Alpaka!“

- „Lama!“

- „Al-pa-ka!”.

Das geht eine Weile so weiter, bis man sich schließlich einigt:

- „Ronaldo“.

So heißt das Tier.

Und noch was ist unstrittig: Ronaldo ist einfach

- „mega!“

(An das Alpaka Ronaldo geht hiermit übrigens auch der inoffizielle Preis für die Beste Filmfrisur.)

Filmstill aus Raíz
"Raíz" (c) Johan Carrasco

 

Diese Talente!

(von Holger Twele)

Gerade noch war die zu den Dreharbeiten erst zwölfjährige Sofia Clausen bei Generation Kplus auf der Leinwand als 14-jährige Hauptdarstellerin Ana im Debütfilm „Tonspuren“ von Ingrid Pokropek zu sehen. Nun stand sie nach dem Film zusammen mit der Regisseurin für ein Q&A auf der Bühne. Nur überragte das kleine Mädchen aus dem Film inzwischen die Regisseurin fast um Kopflänge. So schnell kann es in knapp zwei Jahren gehen. Im nächsten Film der Regisseurin wird Sofia dennoch wieder mitspielen, diesmal als jugendliche Musikerin.

Große Momente

Im Kino gewesen. Geweint.

(von Kirsten Taylor)

2021 wurde der Lehrer Dieter Bachmann aus dem Dokumentarfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“ (Maria Speth, 2021) zum heimlichen Held der Berlinale. Dieses Jahr dürften Ilkay Idiskut die Herzen zufliegen. Sie ist Lehrerin an einer der größten Volksschulen in Wien. Die Kinder in ihrer Klasse heißen Beid, Hafsa, Manessa, Mohammad oder Selin und sie bringt ihnen mit Empathie, aber auch unantastbarer Autorität Lesen, Schreiben, Rechnen bei, löst mit ihnen gemeinsam Konflikte, hinterfragt Sichtweisen, besucht eine Moschee und den Stephansdom, tanzt und singt. Drei Jahre begleitet Regisseurin Ruth Beckermann in ihrer Doku „Favoriten“ die Lehrerin und ihre Klasse. Dann muss Ilkay Idiskut Abschied nehmen. Sie weint, die Kinder brechen in Tränen aus, eine ganze Klasse stürmt nach vorne und umarmt eine Lehrerin und verstohlen werden auch im Kinosaal Augen trocken getupft.


Ansteckend

(von Barbara Felsmann)

Einer der ganz wenigen witzigen Beiträge bei Generation in diesem Jahr: der quietschbunte kurze Animationsfilm „Beurk!“ (Igitt!) aus Frankreich. Es geht ums Knutschen und wie eklig das ist. Meinen zumindest die Kinder. Trotzdem machen es alle und lassen die Welt rosarot erleuchten. Und … stecken andere an!

Filmstill aus Beurk!
"Beurk!" (c) Ikki Films, Iliade et Films

Mit Liebe überschüttet

(von Kirsten Taylor)

Elias ist 14 und das erste Mal verliebt, und zwar nicht in Valerie, mit der er offiziell zusammen ist, sondern in Alexander, der ins Haus gegenüber gezogen ist und mit ihm in dieselbe Klasse geht. Als wäre dieses Gefühl nicht schon groß genug, fragt er sich, ob er sich überhaupt in einen Jungen verlieben darf. „Young Hearts“ von Anthony Schatteman, gezeigt im Rahmen der Reihe Kplus, ist ein wenig zu versöhnlich – denn natürlich sind Elias‘ Ängste völlig unbegründet – und setzt zu sehr auf Klaviermusik, aber er ist ein Mutmacher-Film und ein schönes Beispiel dafür, dass heutzutage in Kinder- und Jugendfilmen ein Coming-out nicht mehr unweigerlich eine Katastrophe nach sich zieht. Er habe in seinem Debütfilm nicht nur die Geschichte von Elias, sondern auch seine eigene Geschichte erzählt, erklärt Schattemann im anschließenden Q&A „I really needed a story like this, when I grew up and had a lot of questions“, so der Regisseur. Das Publikum im Haus der Kulturen der Welt wenigstens hat den Film mit Liebe geradezu überschüttet, bejubelt und mit andauernden Standing-Ovations beklatscht.

Ich seh’ das anders-Momente

Begeisterung und Skepsis

(von Barbara Felsmann)

„Boa, der Film eben war toll! Der gewinnt sicher den Gläsernen Bären!“, rief eine Besucherin von Generation Kplus euphorisch durch die Cafeteria im Haus der Kulturen der Welt. Gesehen hatte sie, eine Lehrerin, wie ich später heraushörte, den Eröffnungsfilm „Sieger sein“ von Soleen Yusef. Der Film gewann keinen Preis und ich konnte – ehrlich gesagt – ihre Begeisterung nicht teilen. Die Mädchen im Fußballteam waren einsame spitze, ansonsten aber nervten die Klischees von der Schulsituation sowie den „reichen und armen“ Kindern und ganz schwierig fand ich die Vereinfachung der kriegerischen Auseinandersetzungen in Syrien.

Filmstill aus Sieger sein
"Sieger sein" (c) Stephan Burchardt, DCM

In einem Film versinken

(von Kirsten Taylor)

Es sieht alles so gut aus für Ziba: super Abi, ein Platz am University College London, wo sie Astrophysik studieren wird, eine tolle Clique, mit der sie diesen Sommertag in London verbringen will. Falafel essen in der Portobello Road, zum Hampstead Heath fahren, schwimmen gehen, abends den Asteroid-Regen beobachten, der über die City herabgehen soll. Aber nichts ist gut: Die junge Frau hat offenbar Krebs, sie hat Angst, bei der Behandlung ihre wunderschönen Haare zu verlieren, sie weiß nicht, ob sie eine Zukunft hat. Und deshalb soll es um Mitternacht den titelgebenden „Last Swim“ für sie geben, damit sie all ihre Ängste mit einem Schlag los ist. Der Film vermittelt immer wieder Zibas Gefühl von unbändiger Lebenslust, Verzweiflung und Trauer und erzählt auf schöne Art und Weise von der Verbundenheit der jungen Leute, ihrer Freundschaft, die sich wie Liebe anfühlt. Dennoch erscheint vieles vorhersehbar. Alles schon mal so oder so ähnlich gesehen, ein bisschen zu viel Zeitlupe, Bilder von London, die wenig überraschen, melancholische Musik, wenn nicht gerade King Krule eingespielt wird. Und warum erzählt Ziba ihren engsten Freund*innen und nicht einmal ihrer Bestie, dass sie schwer krank ist? Der Plot blättert sich auf, bald scheint klar, dass Ziba ihre eigene Stärke und die Schönheit des Lebens entdecken wird. Es braucht dazu nur einen Schockmoment, um das Dasein wieder schätzen zu können. Leichte Ernüchterung stellt sich ein. Aber nicht bei der Jugendjury, die dem Regisseur Sasha Nathwani für „Last Swim“ den Gläsernen Bären verleiht. In der anschließenden Vorführung des Gewinnerfilms ist es im Kinosaal mucksmäuschenstill, manchmal wird gelacht, und bei dem dann plötzlichen (aber doch erwarteten) Unfall stößt eine junge Frau in der Reihe vor mir einen Schrei des Entsetzens aus. Hitchcock wäre vor Neid erblasst. So kann sich Kino anfühlen, wenn man die kritische Distanz aufgibt.

 

Barrieren erkennen

(von Rochus Wolff)

Bei der Eröffnung selbst wird angekündigt, dass die Vorstellung des Films „Sieger sein“ mittels der App „Greta“ für Sehbehinderte auch mit Audiodeskription ergänzt werde. Und um das konsequent auf die ganze Veranstaltung auszuweiten, versucht Moderator Tobi Krell auch zu beschreiben, wer gerade auf der Bühne steht und spricht – gibt aber auf, sobald mehr als zwei neue Menschen vor die Leinwand treten. Das dauert offenbar dann doch zu lange.

Filmstill aus Quell’estate con Irène
"Quell’estate con Irène" (c) Berlinale 2024

 

Digital Detox

(von Ulrike Seyffarth)

Berlinale Pressevorführungen Generation 14plus, letzter Tag: „Disco Afrika“, „Quelle’estate con Irène“ und „Huling Palabas“. Ein wilder cineastischer Ritt vom Edelsteinschürfen und Korruption in Madagaskar über die Realitätsflucht zweier junger Frauen auf eine italienische Sommerinsel bis zum Ende der Kindheit in einem philippinischen Dorf. Drei Filme, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Und doch ist da etwas, das sie verbindet, ein kleines, aber entscheidendes Detail: Es gibt keine Mobiltelefone, kein Internet. Die legendäre Musik von Disco Afrika kratzt ihre revolutionäre Macht auf dem Plattenspieler. Unauffindbar und ungestört können Clara und Irène ihre gestohlene Zeit auskosten. Andoys und Pidos Freundschaft fußt auf ihrer Leidenschaft für VHS-Videos. Magische, kostbare Momente, wohin man auch schaut. Da will man sich gar nicht ausmalen, was GPS und Streamingdienste hier angerichtet hätten!

Das habt ihr anders gesehen-Momente

So rum und so rum

(von Barbara Felsmann)

2022 lief bei Generation Kplus der irische Film „The Quiet Girl“ von Colm Bairéad, der mit einer Lobenden Erwähnung von der Kinderjury und dem Großen Preis für den Besten Film von der Internationalen Jury ausgezeichnet wurde. Im November 2023 kam der Film in die deutschen Kinos und begeisterte über Wochen ein vorrangig erwachsenes Publikum. In diesem Jahr lief im Wettbewerb der Berlinale der Film „Langue Étrangère“ der französischen Drehbuchautorin und Regisseurin Claire Burger. Darin geht es um die enge Beziehung einer eher schüchternen französischen Austauschschülerin und ihrer gleichaltrigen Leipziger Brieffreundin, einer Klimaaktivistin aus gutsituierten Verhältnissen. Ein Film, der auch gut ins 14plus-Programm gepasst hätte und sicher nach Kinostart vor allem ein jugendliches Publikum anziehen wird.

 

Orientierungsfragen

(von Kirsten Taylor)

Das französische Drama „Langue Étrangère“ von Claire Burger lief im Wettbewerb der Berlinale und erzählt von der Annäherung zweier 17-jährigen Mädchen: Lena lebt in Leipzig, Fanny in Strasbourg, ihre Mütter sind befreundet und so wurden sie zu einer Brieffreundschaft verdonnert. Das erste persönliche Treffen – Fanny besucht Lena in Deutschland – verläuft schlecht. Die beiden scheinen zu unterschiedlich: Lena ist queer-feministisch angehaucht und politisch interessiert, Fanny kommt aus einem bürgerlichen Umfeld, wird in der Schule gemobbt und fühlt sich fremd in der neuen Umgebung. Doch als Fanny erzählt, eine ihrer Freundinnen sei ungewollt schwanger und dürfe auf Geheiß ihres Vaters nicht abtreiben und zudem sei ihre Halbschwester im Schwarzen Block aktiv, beginnt sich Lena für sie zu interessieren. „Langue Étrangére“ sei „ein Film über das Begehren“ und „über den Wunsch, an etwas zu glauben“, erklärt die Regisseurin in der Pressekonferenz. Das betrifft nicht nur die beiden jungen Protagonistinnen im Film, sondern auch deren Eltern, die sich in ihrem Leben eingerichtet haben, wobei offenbar auch das eine oder andere Ideal auf der Strecke geblieben sind. Und dann plötzlich diese Frage eines anwesenden Filmjournalisten an Claire Burger: „Ist das nun ein Jugendfilm? Oder ein ganz normaler Film?“

Filmstill aus Langue Étrangère
"Langue Étrangère" (c) Les Films de Pierre

Da geht noch was!

Barrieren aufbauen

(von Katrin Hoffmann)

„Die Berlinale arbeitet stetig daran, vorhandene Barrieren abzubauen“, heißt es im Programmheft. Trotzdem ist es nicht mehr möglich, an einer Tageskasse Tickets zu kaufen. Kinder und Jugendliche, die (noch) kein Smartphone besitzen, können also nicht mit ihrem Taschengeld an eine Kinokasse gehen und den Einlass ins Kino bar bezahlen. Sie müssen Erwachsene bitten, ihnen ein Ticket zu besorgen. Das ist eine Barriere, die neu aufgebaut wird und einzelnen Menschen ihre Selbstständigkeit nimmt.


Anachronismen

(von Holger Twele)

Der Kinderfilm hat seit vielen Jahren auf der Berlinale seinen festen Platz. Das gilt nicht nur für die Sektion Generation. Am Rande des Festivals vergab der Verband der deutschen Filmkritik auch einen Preis an den besten Kinderfilm des Jahres 2023. Er ging diesmal an „Kannawoniwasein!“ von Stefan Westerwelle. Hinter den Kulissen des Festivals wurde unterdessen über den Entwurf zum neuen Filmförderungsgesetz diskutiert und verhandelt. Da allerdings scheint einer Mitteilung des Fördervereins Deutscher Kinderfilm zufolge der Kinderfilm, der 2023 bei 7,6% aller erstaufgeführten Filme immerhin 29,7% der verkauften Tickets erzielte, keine große Rolle mehr zu spielen. Seltsam!

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